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Oft ist es gerade "Science Fiction ohne Spezialeffekte" – etwa China Miévilles "Die Stadt & die Stadt" oder Robert Charles Wilsons "The Affinities" –, die uns die größten Mindfucks beschert. Was einen im Grunde gar nicht überraschen sollte: Anstatt mehr oder weniger fantasievoller Technologien und Aliens sorgt in solchen Erzählungen eine andere Art des Denkens für den Fremdheitsfaktor – und das kann zu mindestens so exotischen Resultaten führen wie jede quantenphysikalische Zauberei.

"Golden State" ist so ein Buch, und es kommt von einem Autor, der sich schon sehr bewährt hat: Von Ben Winters stammen die "Last Policeman"-Trilogie (leider eine der vielen Reihen, von denen nur der erste Teil ins Deutsche übersetzt wurde) und der großartige Alternativweltroman "Underground Airlines". Winters' jüngstes Werk "Golden State" dreht sich um einen Staat, der jede Form von Lüge unter Strafe gestellt hat und seine Bürger zur "objektiven Wahrheit" verpflichtet. "It's not a matter of opinion. It is part of what is Objectively So." (Man beachte die Großbuchstaben.)

Der Wahrheit verpflichtet

Überwachungskameras sind im Golden State, der in etwa dem alten Kalifornien zu entsprechen scheint, nicht nur im öffentlichen Raum omnipräsent, sondern sogar daheim in der Toilette montiert. Jeder Bürger notiert vor dem Schlafengehen penibel alle Interaktionen, die er im Verlauf des Tages mit anderen hatte, sowie sämtliche anderen objektivierbaren Fakten in seinem Day Book. Nach seinem Tod wird das Buch wie das von jedem anderen in ein immer größer werdendes staatliches Archiv überführt, damit nur ja keine Information aus der Welt verschwinden kann. Everybody builds reality together.

Mit den Speculators ist eine Spezialtruppe der Polizei mit dem Aufspüren von Lug und Trug befasst. Und Winters hat damit wie schon im "Last Policeman" die Möglichkeit, einen Gesetzeshüter, der seinen Beruf sehr ernst nimmt, als Hauptfigur zu bringen – im konkreten Fall haben wir es mit dem 54-jährigen Laszlo Ratesic zu tun. Wir lernen ihn kennen, als er in einem Diner eine Dissonanz im Hintergrundrauschen des Stimmengewirrs empfindet, wie ein Spürhund Witterung aufnimmt – und tatsächlich jemanden aufstöbert, der gerade eine Lüge von sich gegeben hat. (Die Wahrnehmungen der Speculators werden uns an mehreren Stellen geradezu übersinnlich anmuten.)

Es folgt eine Verhaftung und die nüchterne Prognose, dass dem Missetäter bis zu neun Jahre Haft drohen – für eine Lüge in rein privatem Kontext, die – um das Maß vollzumachen – sogar gutgemeint war und jemand anderen schützen sollte. Mit diesem Ereignis, das vollkommen unserem Verständnis von falsch oder richtig widerspricht, lernen wir also die fremdartige Philosophie des Golden State kennen und sind von Anfang an gefesselt.

Police Procedural und Science Fiction

Was die Handlung betrifft, stützt sich "Golden State" weitgehend auf das gute alte Police Procedural: Laszlo erhält mit der jungen Aysa Paige eine Partnerin aufs Auge gedrückt, die er anfangs nur widerwillig akzeptiert, deren ermittlerisches Talent er aber bald zu respektieren lernt. Gemeinsam haben sie einem Fall nachzugehen, der auf den ersten Blick nach reiner Routine aussieht – ein Dachdecker ist in den Tod gestürzt –, im Lauf der Zeit aber immer weitere Kreise zieht und schließlich an den Grundfesten der Gesellschaft selbst rütteln wird.

Im Nachlass des Dachdeckers findet Laszlo übrigens einen als Wörterbuch getarnten Roman. Fiktion ist im Golden State verboten – also reagiert Laszlo zunächst erschrocken, erliegt aber schließlich der Faszination und beginnt zu lesen. Natürlich lässt uns das sofort an Guy Montag aus "Fahrenheit 451" denken, doch sollte man die Hommage nicht überbewerten. Winters' Roman bleibt im Polizei-Genre, wenn auch die Ermittlungsmethoden hier oft etwas ungewohnt sind.

Speculators heißen die Wahrheitspolizisten nämlich wegen ihrer zweiten Aufgabe: Hypothesen zu Motiv und Tathergang zu entwickeln ... was sie aber nur hinter verschlossenen Türen quasi unter Laborbedingungen tun dürfen. Schließlich ist der Fantasie freien Lauf lassen ein "Gefahrenjob" wie Giftmüllentsorgung. Winters versteht es also, der Wahrheitsmanie durchaus komische Aspekte zu entlocken – ein anderer wäre das Höflichkeitsritual, mit dem man sich im Golden State anderen Menschen vorstellt: Man sagt einander die Uhrzeit oder rattert apropos of nothing irgendwelche objektiven Wahrheiten runter – die Erde kreise um die Sonne, 10 sei die Hälfte von 20 und so weiter, erst dann beginnt das eigentliche Gespräch.

Der Elefant im Raum

Nichtsdestotrotz haben wir es mit einer Dystopie zu tun. Doch beschreibt sie eine Gesellschaft, die uns bald weniger Angst macht, als sie uns leidtut. Und nicht nur, weil in dieser DDR-grauen Welt nur ausgewählte Bilder von Überwachungskameras im Fernsehen laufen und Buchtitel wie "Flat Facts for Everyday Use" die einzige Lektüre sind. Je mehr wir von dieser Gesellschaft lesen, desto panischer wirkt ihr Festhalten an der Wahrheit auf uns: We have to defend the world, because the world is all we have. We have to keep things good and true because the good and true world is all we have.

Und damit kommen all die Fragen ins Spiel, die den Roman so spannend machen: Was war vor dem Golden State und aus welchem Trauma heraus ist er entstanden? Was liegt in der angeblichen Wildnis außerhalb seiner Grenzen, in die unheilbare Lügner verbannt werden? Ist "State" überhaupt im Sinne von "Staat" gemeint oder bezieht es sich eher auf einen bestimmten (Geistes-)Zustand? Die Bürger scheinen es bis zu einem gewissen Grad zu wissen, doch verdrängen sie es, wie die Bewohner von Besźel und Ul Qoma in "Die Stadt & die Stadt" die jeweils andere Hälfte "nicht sehen". It is not known and not knowable, lautet bei Winters der Stehsatz, mit dem das Verdrängen begründet wird. Da steht ein riesiger Elefant im Raum, und wir Leser rätseln über dessen Natur.

"Golden State" ist ein zu hundert Prozent faszinierender, wenn auch nur zu neunzig Prozent gelungener Roman. Einige zunächst vermeintlich unwichtige Details erlangen im späteren Verlauf plötzlich noch ungeahnte Bedeutung, was immer ein Zeichen für eine gute Konstruktion ist. Umso auffälliger wirkt es dann aber, wenn andere Elemente ohne Erklärung bleiben. Und auch das geschieht hier (ich will sie allerdings nicht spoilern). Darum der zehnprozentige Abzug – aber auch diese kleine Last ändert nichts daran, dass sich "Golden State" ein Ticket für das nächste Jahres-Best-of bereits gesichert hat.