Zündstoff für die Lohnverhandlungen der privaten Pflegekräfte: Die 35-Stunden-Woche ist die einzige Forderung der Gewerkschaften.

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Wien – "Jeder fragt nach dem Haken, aber es gibt keinen": Carina Hammer sagt das im Brustton der Überzeugung. Die 28-Jährige hat eine Normalarbeitszeit von 30 Stunden pro Woche, sechs pro Tag – bei vollem Gehalt. Ihr Arbeitgeber, Klaus Hochreiter, führte das Modell im Oktober 2018 in seiner Onlinemarketing-Agentur eMagnetix in Oberösterreich ein. Für Hochreiter war es die Flucht nach vorn. Er hatte Mühe, Mitarbeiter zu finden. Mit dem neuen Modell rennen ihm die Interessenten die Tür ein. Als die Geschäftsführung die Idee vor versammelter Mannschaft auf den Tisch legte, sei ungläubiges Staunen die Reaktion gewesen, sagt Hammer. "Wie, bitte, soll das gehen?"

35 statt 38 Stunden

Das fragen sich derzeit auch große Sozialvereine wie Hilfswerk, Volkshilfe, Lebenshilfe oder Pro Mente. Denn die Beschäftigten der Sozialbranche (SÖW) fordern ebenfalls eine Arbeitszeitverkürzung – auf 35 Stunden pro Woche –, wie schon seit Jahren. Heuer allerdings mit Vehemenz, am Montag wird weiterverhandelt. Kein Wunder, dass die Arbeitgeber bremsen: Eine 35-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich käme im Schnitt einem Lohnplus von 8,6 Prozent gleich. Profitieren würden vor allem die vielen in Teilzeit beschäftigten Frauen. Für die Argumente gibt es viel Verständnis: Die Beschäftigten verdienen trotz anstrengender Jobs – in der Behindertenbetreuung, als Pfleger und als Heimhilfen – nicht gerade üppig. Und die Branche sucht händeringend Fachkräfte. Spricht da nicht alles dafür?

Monika Köppl-Turyna, Ökonomin beim wirtschaftsliberalen Thinktank Agenda Austria, warnt vor einer kurzfristigen Betrachtungsweise. Die Beschäftigten in der Pflegebranche hätten dann mehr im Börsel. Das wäre erst einmal gut. Die Kosten würden laut früheren Schätzungen aber um zehn Prozent steigen. "Zu bezahlen hat das der Steuerzahler. Steigen die Kosten für die Pflege, bleibt den Österreichern weniger Geld, das in den Konsum fließt." Das wiederum hätte gesamtwirtschaftliche Effekte. In der jüngeren Vergangenheit war der Konsum ein wichtiger Treiber der Konjunktur.

Jedes Jahr eine Stunde weniger

In der Politik wird das Thema derzeit wie ein rohes Ei behandelt. Unter Türkis-Grün ist die 35-Stunden-Woche, wie sie die Grünen noch im Wahlprogramm forderten, kein Thema. Aber man hat sich die Lösung der Pflegemisere vorgenommen. Der grüne Sozialminister Rudolf Anschober zeigt Verständnis für die Nöte der Branche. Eine Etappenlösung skizzierte er im "Kurier": "Ein Jahr könnte man eine Lohnerhöhung machen. Im darauffolgenden gibt es dann eine leichte Arbeitszeitverkürzung von einer Stunde." Würde man das über mehrere Jahre verknüpfen, könnten nach vier Jahren zwei Stunden weniger pro Woche herausschauen.

Von der 35-Stunden-Woche wäre man so zwar noch immer entfernt. Aber es wäre ein Ansatz, der in die gewünschte Richtung ginge – ohne politischen Wirbel. Denn für Wirtschaft und Industrie ist Arbeitszeitverkürzung seit jeher ein rotes Tuch. Selbst die Roten taten sich vor Jahren mit dieser uralten Kernforderung der Gewerkschaft schwer. Erst SPÖ-Chefin Pamela Rendi-Wagner hat sie wieder uneingeschränkt zur roten Sache gemacht. Langfristiges Ziel: 30 Stunden für alle. In Opposition lässt sich so etwas leichter fordern denn als Regierungspartei.

Horrorbeispiel Zwölfstundentag

Allzu gut erinnert man sich an die Debatte über den Zwölfstundentag, der von Türkis-Blau gegen den Willen der Grünen und Roten 2018 eingeführt wurde. Die erlaubte Höchstarbeitszeit wurde von zehn auf zwölf Stunden pro Tag und von 50 auf 60 pro Woche erhöht. Ganz nach dem Lehrbuch der klassischen Ökonomie: Mehr Flexibilität und weniger strikte Arbeitszeitgesetze befeuern die Wirtschaft, die Unternehmen stellen mehr Menschen ein. Der Verdacht der Gewerkschaft, dass die höhere Maximalarbeitszeit zu einer höheren Durchschnittsarbeitszeit führt, lässt sich mangels Statistik nicht erhärten, Zahlen von 2019 liegen noch nicht vor.

Ein Trend zeigt sich aber: Seit 2005 gingen die durchschnittlich geleisteten Arbeitsstunden um knapp drei auf 30,3 pro Woche zurück (Jahresdurchschnitt über alle Wochen inklusive Urlaube und Feiertage).

Produktivität steigern

Arbeitsrechtler Martin Risak von der Uni Wien bleibt bei seiner Kritik: In Zeiten ständiger Erreichbarkeit fehle eine juristisch verankerte Strategie, wie man die Freizeit der Arbeitnehmer absichere. In anderen Ländern gebe es das längst. In der Pflegebranche gehe es um andere Brocken: "Wir haben eine extreme Verdichtung, und die Arbeit ist emotional fordernd." Wie in der Industrie versuche man die Produktivität zu steigern, sagt Risak. Das Wichtigste sei jetzt, jenseits der Ideologie herauszufinden, "was wirklich gewollt ist: weniger arbeiten oder mehr Geld?"

Mehr Freizeit

In einigen Branchen reagierte man auf den steigenden Freizeitbedarf, etwa mit der "Freizeitoption", bei der Überstunden in Zeitguthaben ausgezahlt werden. Studien bestätigen zudem: Wer kürzer arbeitet, ist häufig produktiver. Und gerade jüngeren Arbeitnehmern ist die Work-Life-Balance heilig. Käme da nicht die 35-Stunden-Woche für alle gerade recht? Noch dazu, wo die letzte große Arbeitszeitverkürzung vierzig Jahre zurückliegt? Soziologe Jörg Flecker von der Uni Wien findet, schon: "Die Vereinbarkeit von Beruf und Familie, die Arbeitslosigkeit, der zunehmende Stress, die Probleme haben sich verstärkt."

Weniger ist mehr

Doch so einfach ist es nicht. Einerseits werden reiche Länder nicht durch mehr Arbeit ihrer Beschäftigten reicher. Dänemark, Luxemburg oder die Niederlande fallen durch vergleichsweise niedrige Wochenarbeitszeiten auf. Andererseits geht auch die Rechnung "Reich durch weniger arbeiten" nicht auf. "Bei einer Reduktion von 38,5 auf 35 Stunden müsste man um rund zehn Prozent produktiver werden, damit die Wettbewerbsfähigkeit konstant bleibt", rechnet IHS-Chef Martin Kocher vor. Branchen im internationalen Wettbewerb würden sich enorm schwertun. Gerade bei einer Exportnation wie Österreich fiele das ins Gewicht. Kocher verweist auf Frankreich: Die 35-Stunden-Woche brachte dort klar negative Effekte.

Carina Harmer tangiert das nicht. Ihr Arbeitgeber leistet sich 30 Stunden bei vollem Lohnausgleich. "Mehr Freizeit, weniger Stress", sagt sie, "das ist super." (Regina Bruckner, 10.2.2020)