Recep Tayyip Erdogan ist das perfekte Feindbild. Der türkische Präsident regiert sein Land autoritär bis brutal, trägt mit seiner Intervention zur Eskalation in Syrien bei und greift auch in der aktuellen Krise zu verwerflichen Strategien. Sein Satz von den "geöffneten Toren" hat tausende Flüchtlinge in falscher Hoffnung an die türkisch-griechische Grenze gelotst, obwohl dort kein Weiterkommen in die EU ist.

Österreichs Regierung hat nicht gezögert, auf den Sündenbock einzuprügeln – und Applaus vom Boulevard geerntet. PR-technisch hat Sebastian Kurz mit den Grünen als Beiwagerl alles richtig gemacht. Wie ein Staatsmann verhalten hat er sich nicht.

Der Vorwurf, dass Erdogan die EU erpresse, ist fehl am Platz. Bei aller Kritik an der Form steckt hinter seiner Aktion ein legitimes Interesse: Die Türkei braucht mehr Hilfe, um mit den Flüchtlingsmassen – knapp vier Millionen im Land, viele weitere jenseits der Grenze zu Syrien – zurande zu kommen. Es ist ja nicht so, dass dieser Zustrom allein mit Erdogans Politik im Kriegsgebiet zu erklären ist.

Vizekanzler Werner Kogler (Grüne), Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) und Innenminister Karl Nehammer (ÖVP).
Foto: APA/ROLAND SCHLAGER

Die EU hat ein vitales Interesse daran, dass diese Menschen gut versorgt sind, statt sich unkontrolliert nach Europa aufzumachen. Verantwortungsvolle Politik muss deshalb die Verständigung suchen, in Gestalt eines erneuerten Flüchtlingsdeals mit der Türkei. Deutschlands Kanzlerin Angela Merkel hat Erdogan auch kritisiert, aber gleichzeitig Kooperation signalisiert. Kurz hingegen setzt auf verbale Eskalation und darf dabei auf Verbündete zählen, die sich gerne als immun gegen Populismus stilisieren. Beschämenderweise haben Neos und Grüne, wenn auch mit relativierenden Nebensätzen, in den Erpressungsvorwurf eingestimmt. Es spricht für die SPÖ, dass sie sich als einzige Partei von diesem unguten nationalen Schulterschluss ferngehalten hat.

Vorwurf der Willkommenskultur

In der zweiten Kernfrage zeigt die kleine Koalitionspartei stärker Flagge. Die Grünen drängen darauf, Frauen und Kinder aus griechischen Lagern, wo teils katastrophale Bedingungen herrschen, aufzunehmen. Einzelne Bürgermeister aus der SPÖ und unterschwellig sogar aus der ÖVP schließen sich dem Appell an, Wiens roter Stadtchef Michael Ludwig hingegen eiert herum – offenbar aus Angst, sich vor der Landtagswahl im Herbst den toxischen Vorwurf der Willkommenskultur einzufangen.

Wieder hat Kurz mit seinem strikten Nein die Argumente, die bei der breiten Masse wohl besser verfangen – und manches davon stimmt ja auch. Tatsächlich hat Österreich seit 2015 sehr viele Flüchtlinge aufgenommen, während sich andere EU-Staaten drückten. Schulen kämpfen schon jetzt mit Integrationsproblemen, es fehlt an Jobs. Ein weiterer Zustrom wie vor fünf Jahren wäre für das Land nur mehr sehr schlecht verkraftbar.

Doch von einem Revival von 2015, als unkontrolliert über die Grenze strömende Asylwerber so vielen Bürgern Angst machten, ist ja auch keine Rede. Es geht darum, einer begrenzten Zahl besonders notleidender Menschen zu helfen – etwa, wie Bundespräsident Alexander Van der Bellen vorschlägt, unbegleiteten Kindern, die in manchem griechischen Lager um ihre Gesundheit und sogar ihr Leben fürchten müssen. Wenn schon ein nationaler Schulterschluss, dann für diesen humanitären Akt – selbst wenn die faire Aufteilung von Flüchtlingen auf alle EU-Staaten wieder nicht zustande kommt. Das kann, das muss sich eines der reichsten Länder der Erde leisten. (Gerald John, 6.3.2020)