Es fehlen viele gewohnte Hinweise zur Orientierung – Video macht es schwieriger, menschen einzuschätzen. Hier im Bild: The Innovation in Politics Institute.

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Ist Ihnen schon aufgefallen, wie viele Menschen sich für das Skype-Interview oder die Videokonferenz vor ihren Bücherwänden und Kunstwerken ins Bild setzen? Nun, damit befolgen sie nicht nur die derzeit inflationär kursierenden – und durchaus wertvollen – technisch-handwerklichen Tipps. Es geht dabei auch um das Absetzen einer nonverbalen, zwischenmenschlichen Botschaft: Ich lese viele Bücher, ich lebe mit Kunst, nimm mich daher gefälligst als intelligent, gebildet und materiell potent wahr. In der Fachsprache heißt so eine Botschaft "sozialer Code", und im persönlichen Umgang haben wir dafür unzählige Gestalten und Verhalten zur Verfügung.

Übersiedelt das Meeting vom gewohnten Konferenzraum ins Heimbüro – Business-euphemistisch "virtual office" genannt –, reduzieren sich die Kodierungsoptionen. Neben der Hintergrundinszenierung bleiben noch Styling und Outfit, das aber auch nur im "goldenen Dreieck" um Gesicht und Schulterpartie.

Niemand kann sich jetzt darüber ausdrücken, die beste Position am Tisch einzunehmen, sein Revier mit breiter Aktenauslegung zu markieren, den Porsche-Schlüssel zu platzieren, die komplizierteste Kaffeebestellung abzugeben oder besitzergreifende Begrüßungshandschläge aufzudrängen.

Das Wie entscheidet mehr als das Was

Ähnlich abgemagert ist das Repertoire der nonverbalen Kommunikation, wenn man einander nur "face to screen" begegnet, erst recht bei wackeligen Netzverbindungen. Das wird umso relevanter, wenn man bedenkt, dass, je nach Studie, zwischen 80 und 90 Prozent des Gesagten nicht nach dem "Was?", sondern nach dem "Wie?" beurteilt werden, also über para- und extraverbale Faktoren wie Stimmlage, Mimik, Körper- und Raumhaltung.

Im Video-Meeting fehlen viele wichtige Hinweise ("cues"), die unser Sensorik-Hirn-System normalerweise automatisch, in Millisekunden, verarbeitet, um zu situativen Einschätzungen und Prognosen über das Gesprächsgegenüber und den -verlauf zu kommen.

Wir reagieren aber weitgehend automatisch auf Reize, die uns vielfach nicht bewusst sind, und haben den Großteil unserer verhaltenssteuernden Programme im Hintergrund laufen. Übersetzt auf die Situation eines Video-Meetings bedeutet das: Unsere Verhaltensprogrammierung ruckelt heftig, weil uns erforderliche soziale Inputs von anderen ebenso fehlen wie etliche erprobte, internalisierte Wege, uns selbst zu äußern.

Diese Mangelerscheinungen in der sozialen Interaktion per Video nehmen wir – vorwiegend unbewusst – als Inkonsistenzen wahr. Das Tier in uns ist irritiert, Stress entsteht. Und jetzt geht’s an die Biochemie: Statt meeting-freundlicher Hormone wie Dopamin (das "Erfolgshormon"), Oxytocin (das "Vertrauens- und Bindungshormon") oder dem fallweise durchaus auch wünschenswerten Testosteron (das "Risikoträger/innen-Hormon") wird das "Stresshormon" Cortisol ausgeschüttet.

In diesem psychophysiologischen Notbetrieb, nur mehr das archaische "fight or flight" ("Kampf oder Flucht", allenfalls noch ergänzt durch die Option "Erstarren/Totstellen") zur Auswahl, fühlen sich Menschen nicht nur unwohl. Sie treffen auch schlechtere Entscheidungen.

Doch wie geht’s nun raus aus der Inkonsistenz-Falle im "virtual office"? Dazu einige Ansätze:

·Darwinistisch Einzelne aktuelle Studien deuten an, dass sich der Organismus von Menschen, die regelmäßig und ganz alltäglich virtuell interagieren, allmählich anpasst. Hängt also jemand permanent auf Whatsapp, nimmt sein limbisches System ein Daumen-hoch-Emoji ebenso belohnend wahr wie ein ermunterndes Lächeln. Das mag Start-ups mit jungen Teams Mut machen, traditionell zusammengesetzten Aufsichtsräten hingegen weniger.

·Digital-adaptiv Selbst wenn viele vertraute "social codes" und "social cues" in Face-to-screen-Begegnungen nicht zur Verfügung stehen – manches kann man substituieren. Zum Beispiel den zustimmenden Gesichtsausdruck verstärken, um ein anerkennendes Schulterklopfen zu ersetzen.

·Technisch-methodisch Wer die Tipps zu Technik und Handwerk einer erfolgreichen Videokonferenz – von Bandbreite über Bildausschnitt bis Meeting-Moderation – gut umsetzt, schaltet einige Irritationen aus und kann sich besser auf das zwischenmenschlich Wesentliche konzentrieren.

·Copy-paste TV und Internet gehen derzeit über vor lauter Videodiskussionen, Skype-Interviews und Zoom-Sessions. Wer als Unbeteiligte/r beobachtet und bewusst mitfühlt, erkennt schnell, von welcher On-screen-Präsenz man gut abschauen kann – und bei welcher man lieber wegschaut.

·Selbstmanagement Das Tier in uns lässt sich ein bisschen domestizieren. Allein das Wissen und bewusste Reflektieren darüber, was alles uns in einer Video-Session irritieren kann, bewirkt bereits, dass sich die Blindflugnebel lichten. (16.4.2020)