Eine Impfung würde mich, Sars-CoV-2, unschädlich machen, ich könnte bei keinem Menschen mehr andocken. Es gibt aber noch keine.
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Man erkennt mich an meinen Stacheln, auch Spikes genannt.
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Mein Name ist Sars-CoV-2. Den habe ich mir nicht ausgesucht, die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat mich so getauft. Ich bin ein Virus und gehöre zur Familie der Coronaviren. Von unserer Gattung gibt viele Familienzweige. Ich selbst bin gerade erst auf die Welt gekommen. Mein nächster Verwandter ist Sars, ein Cousin von mir, der seit 2003 auf der Welt ist und mit dem ich eng verwandt bin. Die WHO wollte unsere Verwandtschaft unbedingt im Namen verankern. Na gut, der Name gefällt mir nicht, aber egal, ich werde ihn niemals selbst aussprechen müssen.

Denn ich bin überhaupt kein selbstständiges Lebewesen, sondern nur ein kurzes Stück Erbgut, genauer gesagt RNA. Ich brauche, um überhaupt existieren und mich vermehren zu können, andere Organismen. Konkret brauche ich die lebendigen Zellen anderer. Dort will ich hin, dort docke ich an, dringe ein und nutze deren Strukturen, um auf diese Weise von einem zum anderen Organismus springen zu können.

Deshalb sind auch Körperöffnungen für mich extrem interessant. Ich will rein in die Menschen, und nichts eignet sich dafür besser als Mund und Nase. Sie sind gut zugänglich (das ist entscheidend), dort ist es feucht (das mag ich), es spritzt (das brauche ich), und vor allem – Münder und Nasen der Menschen kommen oftmals nahe zusammen. Das nutzt mir, Tröpfcheninfektion nennen es Infektiologen. Diesen Übertragungsweg nutzen ich und meine viralen Kollegen – er ist gut erprobt, ich bin auf diesen Zug einfach nur aufgesprungen.

Wo ich geboren wurde

Ich will in die Körperöffnungen der Menschen – überall, wo es feucht ist, fühle ich mich wohl.
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Eine Spritze gegen mich: Gibt es nicht. Ich bin erst ein knappes halbes Jahr alt: Die Forscher kennen mich noch nicht gut und haben keine Medikamente gegen mich zur Verfügung.
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Aber zurück zu meinen Anfängen: Ich, das Sars-CoV-2-Virus, bin wahrscheinlich irgendwann im Herbst 2019 entstanden. Wer genau meine Eltern sind, kann ich gar nicht sagen, aber sehr sicher ist, dass eine Fledermaus beteiligt war. Wahrscheinlich haben Fledermäuse mich erst noch in ein anderes Tier gebracht und erst dann zu den Menschen. Das alles lässt sich aus meiner RNA, also meinem Erbgut ablesen, das chinesische Wissenschafter bereits am 12. Jänner 2020 entschlüsselt haben.

Mein Geburtsort ist mit ziemlicher Sicherheit ein Wildtiermarkt in Wuhan, jener Elf-Millionen-Metropole in China, in der ich zum ersten Mal die Chance hatte, meine invasiven Fähigkeiten auszuprobieren. Ein großer Erfolgsfaktor für meinen Vermehrungsfeldzug war dabei die jährliche Influenza, eine virale Kollegin, die sehr ähnliche Symptome wie meine verursacht und die dort gerade grassierte. Deshalb blieb ich eine Zeitlang unter dem Radar der Gesundheitsbehörden. Man dachte, die ersten Toten sind Grippeopfer. Das gab mir die einmalige Chance, meine Mannschaft an Leuten, die mich vermehren, richtig gut auszubauen.

Ich bin schnell und langsam zugleich: Während Forscher in China noch damit befasst waren, mich zu entdecken, habe ich Menschen befallen. Ich bin ziemlich effektiv beim Überspringen von Mensch zu Mensch, aber langsam, weil es eine Zeit dauert, bis ich es schaffe, einen vergleichsweise kleinen Anteil von ihnen wirklich krank zu machen. Da können schon einmal drei Wochen vergehen, bis ich Leute so krank, schwach und nach Atem ringend mache, dass sie mit ihren entzündeten Lungen ins Spital müssen, aber selbst dann: In 98 Prozent aller Fälle werden mich ja sogar auch die Covid-19-Erkrankten wieder los.

Mild und tödlich

Ich erobere Kontinente: Zuerst war ich in Asien, dann bin ich mit den Flugzeugen nach Europa und in die USA gekommen. Auch in Afrika breite ich mich aus.
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Man erwischt mich mit den Tests immer nur "in flagranti", manchmal kann ich mich auch verstecken.
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Ein weiterer meiner Vorzüge: Ich bin manchmal mild und manchmal tödlich – und das parallel. Gegen die Mehrheit der Menschen habe ich gar keine Chance. Ihr Immunsystem ist so stark, dass es mich bereits im Rachen abtötet und ich gar nicht erst bis in die Lunge komme. Das schaffe ich nur bei jenen, die vorher schon schwach waren. Also bei den Älteren, bei solchen mit geschwächten Organen, bei den eher unfitten Leuten – dort habe ich vergleichsweise leichtes Spiel. Ich habe außerdem entdeckt, dass auch Jüngere eine ganz schön schwache Konstitution haben können. Das hat mich selbst überrascht.

Eine weitere Strategie, die ich mir ausgedacht habe, ist meine ausgeklügelte Tarnung. Ich arbeite offen und verdeckt zugleich. Denn einen Teil meiner Opfer mache ich ja nicht wirklich schwerkrank. Ein bisschen müde, ein bisschen Husten: Viele sind deshalb nicht zu Hause geblieben.

Dieses heimliche Spiel wurde zu meinem Erfolgsfaktor. Auch die leicht Kranken oder vielleicht gar nicht Kranken sind infektiös. Diese Strategie verschafft mir enorme Vorteile. Die Menschen haben noch viel zu komplizierte Testtechnologien und erwischen mich quasi immer nur "in flagranti". Und weil nie alle Menschen getestet werden können, laufen viele meiner Opfer unter dem Radar. Dunkelziffer heißt das. Würden die Leute herausfinden können, wie viele ich tatsächlich infiziert habe, ohne sie krank zu machen, würden zumindest die Statistiker die Angst vor mir eher verlieren.

Wen ich befalle

Wenn Menschen sich nicht mehr treffen, ist das für mich schlecht. Ich kann mich nicht vermehren. Deshalb sitzen alle schon so lange zu Hause.
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Ich, das Coronavirus, habe Macht – zumindest einstweilen noch.
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Zu meiner Ehrenrettung möchte ich sagen, dass ich eindeutig Kinder verschone. Ich bin ein junges Virus und habe mich auf alte Opfer verlegt. An einem jungen Immunsysten beiße ich mir so gut wie immer die Zähne aus – oder sollte ich Stacheln sagen? Ihr habt mich und meine Stacheln ja überall gesehen. Diese Spikes sind für Virologen mein Erkennungsmerkmal und mein wichtigstes Werkzeug – es sind meine Andockstellen, mit denen ich mich an die Körperzellen anderer anklebe.

Und wenn ich meine Heimlichkeit bei den Alten aufgebe, mit offenen Karten spiele und krank mache, dann haben die Mediziner einfach kein Medikament gegen mich in der Hand. Denn Medikamente, die mich angreifen, greifen immer auch die eigene Körperzelle an. Das ist der Trick von uns Viren.

Meinen weltweiten Erfolg habe ich allerdings auch den Menschen selbst zu verdanken. Konkret ihrem Lebensstil. Ich schaffe es, lokal und global gleichzeitig zu sein. Was ich so richtig gerne mag, sind viele Leute auf engem Raum. Transportmittel aller Art sind deshalb mein Terrain: U-Bahn, Zug, Schiffe und Flugzeuge also. Aber auch Lifte, Bars und andere Orte, die Menschen mit Platzangst meiden.

In den engen Transporträumen schaffe ich den Sprung über die Kontinente locker. Je globalisierter die Orte, an denen ich schon landete, umso besser ist es für mich. Von den Après-Ski-Bars in Tirol habe ich es nach ganz Europa geschafft. Kleinteilig und weitreichend, begrenzt und grenzenlos: So bin ich.

Sozial und asozial

Auch der Umstand, dass Menschen sehr soziale Wesen sind, ist für meine Ausbreitung vorteilhaft. Sie stecken – mehrheitlich – gerne zusammen. Großfamilien mag ich besonders gerne. Küssen und Nähe auch. Die gab es nicht überall, in Italien aber schon. Andererseits: Mit dieser sozialen Ader habe ich jetzt auch zu kämpfen: Weil sie meine leichtesten Opfer schützen wollen, haben Regierungen ein asoziales Verhalten verordnet. Das ist schlecht für meine Ausbreitung genauso wie Masken vor dem Mund.

Der Nachteil für die isolierten Leute selbst: Keine sozialen Kontakte zu haben macht den Leuten auch zu schaffen, manche vielleicht auch krank. Alleinsein zehrt an den Nerven und verursacht Krankheiten, mit denen ich dann nichts mehr zu tun habe. Soziale Isolation ist die einfachste Methode gegen mich, doch für Menschen die härteste Strafmaßnahme. Und so simpel die Methode der Vereinzelung auch ist, sie macht Leute wirtschaftlich arm. Und überall, wo Armut ist, habe ich wieder besonders leichtes Spiel. Und interessanterweise finde ich sie auch in reichen Ländern, in den USA zum Beispiel. Das hat mich erstaunt.

Wer an mir schwer Erkrankte retten will, braucht alles an Hightech, das die Medizin im 21. Jahrhundert aufwarten kann. Hart für mich: Dort, wo es genug Intensivbetten gibt, bin ich gestoppt worden. In China zum Beispiel. Gesundheitssysteme, die ihre Kapazitäten an den Schwächsten ausgerichtet haben, sind erfolgreicher gegen mich als jene, die ihre Versorgungsplanung an einer Elite orientiert haben – da habe ich quasi freien Lauf. Ich verschone auch Superreiche nicht. Und selbst Superreiche leisten sich keine private Intensivstation. Plötzlich sitzen alle im selben Boot.

Wir sind eine Herde

Das alles macht eines klar: Ich, Sars-CoV-2, bin sehr ambivalent. Ich habe so viele außergewöhnliche Aspekte an mir, dass ich viele, die gewohnt sind, vernünftig zu denken, an die Grenzen ihrer Denkmöglichkeiten treibe. Gerade deshalb verursache ich bei so vielen extrem große Angst. Und diese Angst ist es auch, die einen dann Werte wie Freiheit über Bord werfen lässt. Chinas totalitäre Überwachungstechnologien machen mir tatsächlich meinen Siegesfeldzug schwer. Allerdings: Eine allzu große Freiheit tut das auch. Wenn ich viele Menschen anstecke, wird eine Population für mich uninteressant, denn jedem, der mich einmal durch sich durchgeschleust hat, dem kann ich nichts mehr anhaben. Herdenimmunität nennt man das.

Ob ihr wirklich wegen mir kleinem RNA-Strang eure Freiheit aufgeben wollt, diese Frage kann ich euch nicht beantworten. Oder ob ihr euer Tun und Handeln von einer App bestimmen lassen wollt. Wenn eine solche Technologie erst einmal installiert ist, werdet ihr mich ganz besonders hassen: nur noch wenige Freunde treffen, kaum reisen, keine Konzerte und Partys mehr, keine religiösen Zusammenkünfte. Zumindest bis es eine Impfung gegen mich geben wird. Das wird allerfrühestens in einem Jahr sein.

Schon vergessen, ich bin knapp ein halbes Jahr alt. Forscher kennen mich nicht so genau. Und noch was: Viren wie mich wird es auch weiterhin geben. Die Spanische Grippe war 1918, ich kam 102 Jahre später auf eure Welt. Evolution hört nicht auf: Ich werde sicher nicht das letzte Virus gewesen sein. (Karin Pollack, 15.4.2020)