Der Politikwissenschafter Felix Butzlaff sieht darin einen Trend zu effizienterer Politik. Im Gastkommentar widmet er sich der Partizipation in Krisenzeiten. In einem weiteren Gastkommentar erläutern Psychotherapeutin Andrea Plaschke und Psychologe Harald Haas, warum es nach der Krise nicht nur eine politische "Abrechnung" braucht, sondern auch Rituale für die Rückkehr zum vertrauten Miteinander.

Krisen sind Zeiten der Exekutive. In unsicheren und bedrohlichen Zeiten blicken Menschen voller Hoffnung auf die Handlungsfähigkeit politischer und administrativer Führung, damit diese der Probleme Herr wird. Existenzielle Bedrohungen sind keine Phasen, in denen Regierungen infrage gestellt werden, oder gar Sternstunden der Opposition. Auch jetzt verzeichnen beinahe sämtliche europäische Regierungen wachsende Vertrauenswerte. Das gilt sogar für Regierungen, die zuvor als schwach empfunden wurden, wie in Deutschland oder in Italien.

Wie sollen in einer Pandemie politische Grundsatzfragen im Diskurs abgewogen und entschieden werden?

Zweitens sind Krisen oft ebenso Zeiten des radikalen Wandels. Politische wie gesellschaftliche Prozesse, die lang davor begonnen haben, beschleunigen sich und prägen die Nachkrisenzeit. So hat sich etwa das Verständnis demokratischer Partizipation in den westlichen, liberalen Demokratien in den letzten Jahren kontinuierlich gewandelt – von einem Fokus auf den partizipativen Input (demokratisch ist es, wenn möglichst alle mitentscheiden) hin zu einer Betonung des Outputs (wenn wir möglichst effiziente Entscheidungen treffen). Dies lässt sich derzeit verstärkt beobachten, etwa im Falle der Einschränkung bürgerlicher Freiheiten: dass nicht mit und durch, sondern für die Bürgerinnen und Bürger Entscheidungen getroffen werden. Dies ist nicht nur eine autoritäre Entwicklung "von oben". Das, was als demokratische Partizipation verstanden wird, verändert sich. Die Corona-Krise wirkt hier bloß wie ein Brandbeschleuniger für Trends der Zentralisierung und Effizienzorientierung.

Kaum fassbare Komplexität

Die für Einzelne kaum mehr fassbare globalisierte Komplexität und Geschwindigkeit haben bereits vor der Corona-Pandemie für Schwindelgefühle und eine Art demokratische Überforderung gesorgt. Einerseits verlangen Bürgerinnen und Bürger verstärkt, miteinbezogen zu werden. Andererseits sind die Effizienzerwartungen an die Politik ungemein gestiegen. Wie sollen sie an der Wahlurne wirtschaftspolitische Entscheidungen treffen, wenn der Hochfrequenzhandel von Finanzprodukten innerhalb einer Sekunde hunderte Transaktionen tätigt? Wie können sie mitentscheiden, wenn das eigene Land vom Handeln vieler anderer Länder abhängig bleibt? Und wie sollen angesichts einer globalen Pandemie politische Grundsatzfragen im gesellschaftlichen Diskurs abgewogen und entschieden werden?

Gegenüber diesen Herausforderungen wirkt unser traditionelles Verständnis von Bürgerinnen- und Bürgerbeteiligung in einer liberalen Demokratie beinahe hilflos. Demokratische Teilhabe, Wahlen und gesellschaftliches Engagement erscheinen dann langsam, schwerfällig, fehler- und manipulationsanfällig. Zudem: Das Gefühl, dass politische Entscheidungen immer voraussetzungsvoller geworden sind, hat zu der sozialen Spaltung beigetragen, unter der liberale Demokratien leiden. Immer mehr Menschen fühlen sich nicht mehr ausreichend dazu in der Lage, politische Entscheidungen zu beeinflussen. Demokratie ist darüber immer akademischer und exklusiver geworden, und spiegelt damit eine Perspektive wider, die bis in die 1960er-Jahre durchaus salonfähig war: dass die Bürgerinnen und Bürger zugunsten der Qualität der Politik besser nicht zu stark beteiligt werden sollten.

Individuum unter Druck

Unter dem Brennglas der globalen Pandemie vertiefen sich diese Zweifel an traditionellen Formen demokratischer Partizipation noch weiter. Regierungen, auch hier in Österreich, greifen verstärkt auf große, digital gesammelte Datenmengen und Big Data zurück. Mittels digitaler Beobachtung von Verhalten und Präferenzen, so das Argument, können die Anliegen und Wünsche von Menschen viel besser verstanden und gesteuert werden, als wenn man Menschen befragt. Mithilfe der Aggregation vieler Millionen Datenpunkte ist das Verhalten von Menschen zuverlässiger einzuschätzen, als wenn jede Bürgerin, jeder Bürger ihr oder sein Votum abgibt – oder auch nicht. Die Bürgerinnen und Bürger wiederum werden in dieser Perspektive von der Bürde entlastet, unter Zeitdruck unsichere Entscheidungen zu treffen.

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In Krisenzeiten steigt das Vertrauen in die Regierungen, auch Bundeskanzler Sebastian Kurz profitiert davon.
Foto: Reuters / Roland Schlager

Aus demokratiepolitischer Sicht kann man diese Entwicklungen mit großer Sorge betrachten. Die Vorstellung digitaler und wissenschaftlich-rationaler Effizienz, die nicht durch langwierige Konsens- und Partizipationsmechanismen verwässert und aufgeweicht wird, welche bereits in den letzten Jahrzehnten wirkmächtiger geworden war, erscheint plötzlich für viele attraktiv. Denn die Pandemie macht deutlich, dass das bisherige Verständnis der Überlegenheit von Demokratien als Diskursgesellschaften, die nach eingehender und öffentlicher Abwägung von Argumenten die effizienteren Entscheidungen treffen können, möglicherweise überholt ist. Das autonome, freie Individuum als Grundlage liberaler Demokratien jedenfalls erlebt derzeit unter den Bedrohungen der globalen Pandemie eine beschleunigte Neudefinition.

Erklärungen gefragt

Gleichzeitig, und drittens, reißen Krisen allerdings immer auch einen Horizont auf. Alte Interpretationsmuster greifen nicht mehr, und neue Erklärungen müssen gefunden werden. Auch dies lässt sich in den letzten Wochen beobachten. Nach dem ersten Schreck der Isolations- und Quarantäneverordnungen dürsten viele Menschen geradezu nach Erklärung: Was bedeutet das alles? Was hat unser Lebens- und Produktionsmodell damit zu tun? Wie wird unser Leben danach aussehen?

Gerade Demokratien könnten hier eine große Stärke gegenüber Autokratien ausspielen: Sie müssen eine offene Debatte über Ursachen, Deutungen und Konsequenzen aushalten. Zudem leben liberale Demokratien vom Versprechen der Reversibilität: dass Entscheidungen auch wieder zurückgenommen werden können, wenn sie sich als falsch oder überholt erweisen. Eine solche Nachbetrachtung erfordert, dass sich Gesellschaften auf einen neuen Grundkonsens verständigen. Nur Demokratien, welche dieses Wechselspiel zwischen Effizienz und Beteiligung beherzigen, bewahren sich ihren liberalen Charakter und können sozial integrieren.

Dass bereits vor Corona von Entpolitisierung, Postdemokratie und autokratischer Wende der Demokratie die Rede war, zeigt, dass Demokratie und Partizipation bereits zuvor im Wandel begriffen waren. Die Tatsache aber, dass derzeit viele Grundsatzfragen langsam (wieder) gestellt werden, könnte hoffnungsvoll stimmen. Soziale, ökonomische, demokratie- und genderpolitische Fragen müssen dafür auf den Tisch. Zentral aber bleiben die noch dahinter liegenden Fragen danach, wer wie gehört werden soll und welche Einbußen an Geschwindigkeit und Effizienz wir dafür in Kauf nehmen wollen. Wir sollten sie nicht leichtfertig übergehen. (Felix Butzlaff, 3.5.2020)