Menschen scheitern viel öfter an sich selbst, an ihrer Einstellung zu Problemen als an den Problemen als solchen, sagt der Psychologe und Autor Albert Wunsch.

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Um in schwierigen Lebenssituationen klare Gedanken fassen zu können, braucht man Kraft. Der Erziehungswissenschafter und Psychologe Albert Wunsch sieht in der aktuellen Situation den besten Beweis dafür, dass nichts so festgefügt ist, dass es sich nicht im Handumdrehen verändern könnte. Innere Sicherheit ist für ihn bei der Bewältigung schwieriger Situationen die beste Voraussetzung. Das Schicksal nicht als Zumutung, sondern als Aufgabe zu begreifen sei ein erster Schritt in die richtige Richtung.

STANDARD: Was macht Belastungen erst so richtig zu Belastungen?

Psychologe Albert Wunsch: "Um am Äußeren nicht irrezuwerden oder daran zu zerbrechen, muss ich was für meine innere Sicherheit tun."
Till Budde

Wunsch: Die innere Einstellung zu dem, was als Belastung erlebt wird. Daraus folgt dann der Umgang mit den Belastungen. In der psychologischen Beratung wird mir das regelmäßig vor Augen geführt. Belastungen wachsen sich in dem Maße zur Last aus, wie sie als solche empfunden werden. Tatsache ist, weniger die Belastungen als solche zwingen Menschen in die Knie als vielmehr die Art und Weise, wie sie sich auf diese Belastungen einstellen. Eine Belastung wirkt umso niederdrückender, je mehr der Mensch sich dagegen auflehnt. Worauf Philosophen seit alters her aufmerksam machen, bestätigt die moderne Psychologie: Nicht die Dinge selbst belasten und beunruhigen die Menschen, sondern deren Urteile und Meinungen über das, was ihnen widerfährt.

STANDARD: Das heißt, Belastendes lässt sich durch die Einstellung erträglicher machen?

Wunsch: Das Wissen darum ist das Geheimnis resilienter Menschen. Also von Menschen, die sich in schwierigen Momenten und Situationen durch eine erstaunliche innere Stabilität und Widerstandsfähigkeit auszeichnen – weil sie sich nicht in den negativen Sog von belastenden Ereignissen ziehen lassen. Dadurch schaffen sie sich eine innere Distanz zu dem Äußeren. Und dadurch bewahren sie sich ihre Handlungsfähigkeit. Sie verpulvern ihre Kräfte nicht in Selbstbedauern oder gar Verzweifeln, sondern konzentrieren sich auf Fragen wie: Was fordert die aktuelle Situation jetzt von mir? Wie gehe ich jetzt am sinnvollsten mit ihr um? So bewegen sie sich fokussiert und zuversichtlich, anstatt gleich die Flinte ins Korn zu werfen.

STANDARD: Und das verleiht ihnen dann Kraft?

Wunsch: Ja, die Kraft, um in kritischen Lebenssituationen einen klaren Kopf zu behalten und sicher navigieren zu können. Dieses fokussierte, zuversichtliche, unverdrossene Bewegen in dem, was bewegt, bewahrt das psycho-mentale Kräftereservoir vor dem gefährlichen Aderlass durch Ängste und Sorgen. Daraus wächst die entscheidende Triebkraft, das Durchhaltevermögen. In kritischen und oft auch schwer durchschaubaren Situationen ist das der entscheidende Gegenspieler zur Resignation. Wer resigniert, kapituliert. Wer kapituliert, gibt auf. Davor kann sich der Mensch aber schützen.

STANDARD: Wie?

Wunsch: In der ersten Begegnung sitzen oft Menschen vor mir, die sich am Rande ihrer Kräfte wähnen. Höre ich ihre Geschichte und erfahre die Gründe dafür, erklärt das einerseits ihren Zustand. Andererseits macht ihre Gemütsverfassung aber auch deutlich, sie stehen dem, was sie jetzt niederdrückt, mehr oder weniger hilflos gegenüber. Sie sind mut-, rat- und antriebslos. Dabei haben sie nichts anderes als eine unvorhergesehene Aufgabe vor sich. Es macht einen gewaltigen Unterschied, ob jemand das, womit ihn das Schicksal konfrontiert, als Zumutung begreift oder als Aufgabe. Eine der wichtigsten Aufgaben im Leben ist, Schwierigkeiten als Aufgabe anzusehen und nicht als hundsgemeinen Tritt vors Schienbein. Menschen scheitern viel öfter an sich selber, an ihrer Einstellung zu Problemen als an den Problemen als solchen.

STANDARD: Und was raten Sie solchen Menschen dann?

Wunsch: Raten ist immer so eine Sache. Wichtiger ist, Einsicht in die Zusammenhänge anzustoßen. Ohne diese aufdämmernde Einsicht geht nichts voran. Bevor es nicht Klick im Kopf gemacht hat, befreit sich kein Mensch aus dem Gefängnis seines fehlleitenden Denkens und Fühlens, in das er sich selbst eingesperrt hat. Wer stabiler in den unvermeidlichen Turbulenzen des Lebens stehen möchte, muss sich dazu oft, sehr oft von sich selber befreien. Das ist eine Loslösungsaufgabe, die wir nicht unterschätzen wollen. Und die sicher auch so manchen neuen Anlauf erfordert. Darin nicht nachzulassen ist die Voraussetzung, sich ein erschütterungsfesteres, stabileres Ich zu erarbeiten.

STANDARD: Denken Sie dabei auch an die aktuelle Situation?

Wunsch: Die aktuelle Situation zeigt uns allen: Alles kann sich im Handumdrehen verändern, nichts ist so festgefügt, wie wir alle es eigentlich so gerne hätten. Sollte das nicht Anstoß genug sein, über sich selbst, die gewohnten Verhaltens- und Reaktionsweisen nachzudenken? Keiner von uns kann Schwierigkeiten im Leben ausweichen. Aktuell erleben wir, über Nacht sind sie gelandet, die berühmten schwarzen Schwäne, die das Leben auf den Kopf stellen. Aber jeder kann darauf hinarbeiten, sich von diesen "Vögeln" nicht komplett aus den Schuhen hauen zu lassen. Je konsequenter auf diese persönliche Sicherheit hingearbeitet wird, desto fester steht der Mensch in seinen Schuhen. Und je ausgeprägter diese Festigkeit ist, desto größer ist auch die innere Ruhe, die es braucht, um beherzt und gleichzeitig besonnen zu handeln – allen widrigen Umständen zum Trotz.

STANDARD: Innere Sicherheit gegen die unvermeidbare äußere Unsicherheit setzen?

Wunsch: Zäumen wir das Pferd einmal von hinten auf: Das Erleben von äußerer Unsicherheit ist außerordentlich belastend. Gesellt sich dazu nun auch noch innere Unsicherheit, dann kann es sehr schnell dramatisch werden. Denn dann kommt der Mensch ins Schleudern. Pragmatisch lässt das eigentlich nur den Schluss zu: Um am Äußeren nicht irrezuwerden oder gar zu riskieren, daran zu zerbrechen, muss ich was für meine innere Sicherheit tun, muss ich innere Sicherheit gegen die äußere Unsicherheit setzen können. Ob wir diese innere Sicherheit nun Resilienz nennen oder innere Widerstandskraft oder innere Stärke oder mentale Fitness, ist letztlich egal, wichtig ist, die Zusammenhänge zu erkennen, die es ermöglichen, nicht viel mehr an sich selbst als an den Umständen zu scheitern. (Hartmut Volk, 6.5.2020)