Little Wirecard im Burgenland: Der Commerzialbank-Skandal nahm vor Jahrzehnten seinen Anfang. Lassen sich solche Wirtschaftskriminalfälle wirklich nicht vermeiden? Wirtschaftsforensiker Matthias Kopetzky sagt: Doch.

STANDARD: Die Commerzialbank Mattersburg hatte rund 800 Millionen Euro Bilanzsumme, davon waren rund 700 Millionen erfundenes Geschäft. Seit 30 Jahren wurde offenbar gefälscht, niemandem fiel das auf: Multiorganversagen?

50 Prozent aller Wirtschaftskriminalfälle kommen durch Whistleblower-Hinweise von ans Tageslicht, sagt der Forensiker und Sachverständige Matthias Kopetzky.
Foto: Regine Hendrich

Kopetzky: So etwas gab es früher auch schon, denken Sie nur an die Bank Burgenland. Wenn jemand einmal falsche Buchungen in seinem System hat, wenn ein Bilanzposten seit zehn, 15 Jahren falsch gebucht ist, dann ist es für einen Prüfer extrem schwierig, das zu entdecken. Die Zeit spielt dem Täter in die Hand, weil je länger so etwas funktioniert, desto eher kommt der Prüfer zur Annahme, dass es nicht falsch sein kann: sonst hätte der Fehler ja längst aufkommen müssen, etwa durch seinen Vorgänger.

STANDARD: Was muss man tun, um Malversationen gleich zu finden?

Kopetzky: Bilanzdelikte zu erwischen ist schwierig. Denn offensichtlich sind solche Vergehen nie. Ein Wirtschaftsleben ohne Vertrauen zwischen den Protagonisten kann nicht funktionieren. Auch im Jahresabschluss spiegelt sich das wider: Man kann nicht jeden Posten nachprüfen. Wenn das aber jemand gut auszunützen versteht, dann kann er lange so agieren.

STANDARD: Dann müsste man die Täter bei der ersten oder zweiten Abschlussprüfung stoppen?

Kopetzky: Da ist es noch schwieriger, weil die Rahmenbedingungen rundum noch auf Erfolg gestellt sind. Es geht ja niemand aus dem Haus in der Früh und sagt: "Jetzt beginne ich meine Jahresabschlüsse zu fälschen." Das fängt mit einem ganz kleinen Problem an, das man ausbügelt, und dann kommt man drauf, dass das niemandem auffällt. Wir sehen das bei unseren Analysen oft bei Buchhaltern: Der tätigt unabsichtlich eine Fehlbuchung und registriert, dass die niemand findet. Zwei Jahre später hat er wirklich ein Problem, greift auf diese Erfahrung zurück – und beginnt in immer größerem Stil zu fälschen.

STANDARD: Im Fall Commerzialbank hat die Managerin als junge Schalterkraft mit kleinen Fälschungen begonnen. Sie soll dann weitergemacht haben, weil sie sagte: "Wenn ich aufhöre, tritt der Schaden ein."

Kopetzky: Der Schaden war längst entstanden, es wusste nur keiner: Die Bilanzen spiegelten nicht die wirkliche Lage der Bank wider.

STANDARD: Martin Pucher war ein Lokalkaiser: Bankchef, Präsident des SV Mattersburg, Sponsor. Man lässt sich schon auch blenden?

Kopetzky: Bei den Kriminalfällen, die wir begutachten, waren die handelnden Personen lange Zeit die Stars ihres Umfelds, als höchst erfolgreich eingeschätzt und hofiert. Erfolg ist der wichtigste Schutz eines Wirtschaftskriminellen. Das ist auch das größte Problem.

STANDARD: Wenn solche Malversationen auffliegen, sagen alle gern, gegen kriminelle Energie könne man wenig tun. Stimmt das?

Landeshauptmann Hans Peter Doskozil (SPÖ) ist durch den Bilanzskandal in die Defensive geraten.
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Kopetzky: Nein. Wir konzentrieren uns nur auf die falschen Strukturen, die wir für Fehler verantwortlich machen. Die Diskussion zur Commerzialbank ist völlig ins Politische abgeglitten, über die, die wirklich etwas hätten tun können, redet man leider kaum noch.

STANDARD: Sie meinen interne Revision, Aufsichtsrat, Wirtschaftsprüfer, Bankenaufsicht durch FMA und Notenbank. Banken haben strenge Regularien, trotzdem konnte die Commerzialbank jahrzehntelang fälschen. Wer weiß, ob die Sache aufgeflogen wäre, hätte nicht im Februar ein Whistleblower eine detaillierte Anzeige erstattet.

Kopetzky: Es gibt wissenschaftliche Untersuchungen, die zeigen, dass die vorgesehenen Prüfstrukturen relativ ineffizient sind. Wirtschaftskriminalfälle werden manchmal durch die interne Revision, so gut wie nie vom Abschlussprüfer oder von Institutionen wie der Aufsicht aufgedeckt. 50 Prozent aller Fälle kommen durch Hinweise von Whistleblowern ans Tageslicht. Denen gehen Unternehmen, Aufseher, Justiz aber oft nicht gründlich nach, sie wischen die vom Tisch. Dabei weiß man, dass Hinweisgeber erst agieren, wenn schon ein gewisser Problemdruck besteht – und dass Vernaderung im wirtschaftlichen Kontext kaum eine Rolle spielt.

STANDARD: Auch in der Commerzialbank gab es schon vor Jahren Hinweise und Anzeigen, die Justiz hat aber keine Verfahren eingeleitet.

Kopetzky: Da muss man die Justiz in Schutz nehmen. Die Anzeigen, die bei den Staatsanwaltschaften landen, sind oft so lieblos gestaltet, dass es kaum möglich ist, ausreichend juristisches Substrat für einen Anfangsverdacht zu finden.

Die Aufsicht liefert der Justiz oft dünne Anzeigen, sodass die Staatsanwälte keinen Anfangsverdacht finden, kritisiert der Sachverständige.
Foto: Elmar Gubisch

STANDARD: Also hat auch die Justiz alles richtig gemacht?

Kopetzky: Früher hat Bilanzfälschung in Österreich kaum jemanden interessiert, jetzt ist der Straftatbestand Bilanzfälschung recht streng – weil nämlich kein Schaden daraus entstehen muss. Es reicht, wenn ein solcher hätte entstehen können – und das macht einen Riesenunterschied. Juristisch gedacht sind Bilanzdelikte aber sehr abstrakt – insofern verdanken wir Commerzialbank und Wirecard die Erkenntnis, wie unmittelbar und massiv sich solche Delikte auf einen großen Kreis an Betroffenen auswirken. Bilanzfälschung ist die höchste Stufe, die Formel 1 der Wirtschaftskriminalität. Da geht es nicht mehr darum, ob ein paar Euro irgendwohin geflossen sind, ob jemand mit ein paar zehntausend Euro bestochen wurde: völlig uninteressant. Wenn Sie wirklich Gas geben wollen, müssen Sie in den Bilanzbereich rein – das zeigt uns Wirecard ganz deutlich.

STANDARD: Und was kann man tun dagegen?

Kopetzky: Der Abschlussprüfer muss seine Arbeit ordentlich machen. Das Thema Wirtschaftsprüfer wird bei jedem Bilanzskandal wieder diskutiert, die Frage ist, ob man sie öfter wechseln muss. Manche sagen, man könne Malversationen umso besser aufdecken, je länger man ein Unternehmen prüft und kennt. Ich glaube das nicht: Die echte, strenge, allumfassende Prüfung ist ausschließlich die erste. Kommt ein Wirtschaftsprüfer neu in ein Unternehmen, prüft er so streng, dass es nur so kracht. Weil findet er die Fehler seines Vorgängers nicht in der ersten Prüfung, werden die zu seinen eigenen Fehlern.

STANDARD: Jedes Jahr ein neuer Abschlussprüfer – und alles wird gut?

Kopetzky: Externe Rotation alle drei Jahre, das wäre gut. Und die widersinnige Systematik gehört geändert: Heute wählt das Unternehmen seinen Abschlussprüfer selbst aus und bezahlt ihn. Stellen Sie sich das einmal an der Uni vor: Der Student verhandelt mit dem Professor, wie viel der für die Prüfung verlangt, sagt ihm, der zwei Zimmer weiter will viel weniger. Widersinnig. Eine neutrale Stelle sollte den Abschlussprüfer zuteilen, die Aufsichtsbehörde etwa oder das Handelsgericht.

STANDARD: Stichwort Aufsicht: Sie argumentiert im Fall Commerzialbank sinngemäß, sie habe andere Schwerpunkte als der Abschlussprüfer, gehe bei Prüfungen nicht ins Detail.

Die Staffelübergabe zwischen Bankenaufsicht und Staatsanwaltschaft klappe nicht, kritisiert Kopetzky. Hier, bei den Süddeutschen Hallenmeisterschaften Sindelfingen im vergangenen Februar hat sie geklappt.
Foto: Imago/Beautiful Sports

Kopetzky: Jeder prüft etwas anderes, keiner prüft die Wirtschaftskriminalität, leider. Eine gewisse Skepsis braucht jeder Prüfer. Und FMA bzw. OeNB als Bankenaufseher müssten sich sehr wohl in die Niederungen der konkreten Geschäftsfälle bewegen, bis zu einzelnen Buchungen; dann, wenn es Hinweise auf Malversationen gibt. Und sie bräuchten mehr Praktiker für die Prüfungen. Heute läuft es so: Kommt der Aufsicht etwas komisch vor, erstattet sie Anzeige – aber sie verabsäumt es meist, den Sachverhalt so darzustellen, dass Juristen etwas damit anfangen können. Das ist, als würde ein Teilnehmer eines Staffellaufs den Stab in die Wiese schleudern und rufen: "Hol ihn dir und schau, dass du trotzdem mit Rekordzeit ins Ziel kommst!" In meinen Augen reden Aufsichtsbehörden und Justiz oft aneinander vorbei. Anzeigen dienen der Aufsicht eher dazu, sich aus ihrer Verantwortung zu verabschieden.

STANDARD: Man hätte den Commerzialbank-Skandal erkennen können?

Kopetzky: Natürlich konnte man die Manipulationen erkennen, aber ab einem gewissen Zeitpunkt war die Aufarbeitung für die Betroffenen nicht mehr opportun, weil sie sie schon zu lange übersehen haben. (Renate Graber, 8.8.2020)