Rund 38.000 Menschen demonstrierten am Samstag gegen die Maßnahmen der deutschen Regierung im Kampf gegen das Coronavirus. Darunter auch Polizisten außer Dienst und gewaltbereite Rechtsextreme.

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Der versuchte Sturm auf den Reichstag sorgte für Entsetzen.

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Berlin/München – Berlins Innensenator Andreas Geisel (SPD) will nach den Massenversammlungen vom Wochenende eine generelle Maskenpflicht bei Demonstrationen in der Hauptstadt. Eine entsprechende Änderung der Infektionsschutzverordnung werde er dem Senat am Dienstag gemeinsam mit Gesundheitssenatorin Dilek Kalayci (SPD) vorschlagen, sagte Geisel am Montag im Innenausschuss des Abgeordnetenhauses. Die Rechtsänderung sei "ein wichtiges Signal" an die Veranstalter der umstrittenen Demos vom Wochenende.

Das Reichstagsgebäude sei bei der Demonstration aus seiner Sicht nicht ungeschützt gewesen. "Das war ein Moment von ein, zwei Minuten, und das ist auszuwerten", sagte Geisel dem RBB-Inforadio mit Blick auf das Vordringen von Demonstranten mit schwarz-weiß-roten Reichsflaggen vor das Reichstagsgebäude, das parteiübergreifend für Bestürzung gesorgt hat. Es sei aber nicht so, dass der Deutsche Bundestag nicht geschützt gewesen wäre. Aufgrund von weiteren Ausschreitungen nahe der russischen Botschaft unweit des Parlaments hätten Einsatzkräfte dort aushelfen müssen.

Anfangs stellten sich nur drei Polizisten der Menge entgegen, wie aus Videoaufnahmen hervorgeht. Nach einer Weile kam Verstärkung, die Polizei drängte die Menschen auch mithilfe von Pfefferspray zurück. "Das sind beschämende Bilder, gar keine Frage", sagte Geisel. "Das darf nicht wieder passieren." Wie der "Spiegel" am Montag berichtete, wurde bei den Demonstrationen auch ein Mann mit einem Revolver festgenommen.

Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller (SPD) kündigte an, das Einsatzkonzept der Polizei auswerten zu wollen. "Mit Besonnenheit und einem klare Grenzen setzenden Konzept konnte die Polizei an vielen Stellen in der Stadt Schlimmeres verhindern", sagte Müller. "Wir werden jetzt auswerten, wie das Einsatzkonzept der Polizei verbessert werden kann, um auf solche Vorfälle noch besser vorbereitet zu sein."

Bilder von der Demo am Samstag
DER STANDARD

Besserer Schutz gefordert

Politiker von CSU und Grünen regten an, die Beschränkungen für Demonstrationen in unmittelbarer Nähe des Bundestags zu erweitern. Der CSU-Rechtspolitiker Volker Ullrich schlug vor, das faktische Demonstrationsverbot um den Bundestag nicht mehr nur auf die Sitzungstage des Parlaments zu beschränken.

Auch der Grünen-Fraktionsvize Konstantin von Notz sieht Handlungsbedarf, geht aber nicht ganz so weit wie Ullrich: Die Sicherheit des Gebäudes müsse erneut diskutiert und verbessert werden. Die sogenannte Bannmeile sieht vor, dass im Umfeld des Bundestags und Bundesrats in Berlin nur demonstriert werden kann, wenn dort keine Sitzungen stattfinden.

Drei Polizisten aufgetreten

Der Bühnenauftritt von drei bayerischen Polizisten bei der Berliner Corona-Demo am Samstag hat indes für Kritik gesorgt. Laut Bildern, die zunächst die Antifaschistische Informations-, Dokumentations- und Archivstelle (Aida) in München veröffentlichte, hatten an der Kundgebung ein pensionierter Hauptkommissar aus München, ein offenbar aktiver Augsburger Kripobeamter sowie ein derzeit strafversetzter Dienstgruppenleiter aus Mittelfranken teilgenommen. In Berlin sollen sich die drei Beamten als Polizisten zu erkennen gegeben haben. Das geht aus Videos hervor, die die "Süddeutsche Zeitung" einsehen konnte.

Bayerns Innenminister Joachim Herrmann (CSU) sagte, dass die Auftritte privat gewesen seien, sie würden aber von den Präsidien dienstaufsichtlich "sehr genau geprüft". Laut Herrmann unterliegen auch Polizisten außer Dienst und im Ruhestand der Treuepflicht und müssten "bei politischer Betätigung die notwendige Mäßigung und Zurückhaltung zeigen". Insbesondere wenn es sich um Reichsbürgerideologie oder ein extremistisches Milieu handle, "werden wir alle Hebel für harte Sanktionen in Bewegung setzen". Hier habe Meinungsfreiheit klare Grenzen. "Für so etwas fehlt mir jegliches Verständnis", sagte Herrmann.

Versuchter Sturm auf den Reichstag

Am Samstag hatte eine große Gruppe aggressiver Demonstrierender Absperrgitter am Reichstagsgebäude in Berlin überwunden. Teilnehmer sind die Treppe zum verglasten Besuchereingang hochgestürmt. Dabei waren auch von sogenannten "Reichsbürgern" verwendete schwarz-weiß-rote Reichsflaggen zu sehen.

Auf einem Video ist zu hören, wie die Demonstrierenden von der Bühne aus aufgefordert werden, den Reichtstag zu stürmen. Dabei fallen auch zahlreiche offenbar frei erfundene Behauptungen. Eine Rednerin etwa sagte, die Demonstrierenden hätten "fast gewonnen" und "Trump ist in Berlin". Ihm soll gezeigt werden, dass "wir den Weltfrieden wollen". Kurz nachdem die Rednerin "Wir holen uns heute hier und jetzt unser Haus zurück" ruft, laufen mehrere Menschen auf das Reichstagsgebäude zu.

Weitere Videos zeigen, wie weit später mehr als hundert jubelnder Menschen minutenlang auf und oberhalb der großen Treppe direkt vor der Tür des Reichstags stehen. Polizisten versuchen, die Menge mit dem Schwenken von Schlagstöcken auf Abstand zu halten. Nach einer Weile kam Verstärkung, und die Polizei drängte die Menschen auch mit Hilfe von Pfefferspray zurück.

Parteiübergreifende Kritik

In Deutschlands Politik herrschte über die Vorgänge vor dem Reichstag Entsetzen, am Montag reagierte auch die Bundesregierung: Es seien "schändliche Bilder" zu sehen gewesen, "die so nicht hinzunehmen sind", sagte Regierungssprecher Steffen Seibert. Es handle sich um "klaren Missbrauchs" der Demonstrationsfreiheit.

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier verurteilte die Vorgänge bereits am Wochenende. Am Montag fügte er hinzu: Reichsflaggen und Reichskriegsflaggen auf den Stufen des frei gewählten deutschen Parlaments, "das ist nicht nur verabscheuenswürdig, sondern angesichts der Geschichte diese Ortes geradezu unerträglich". "Die Verteidigung der freiheitlichen Demokratie obliegt nicht allein der Polizei." Das sei vielmehr Aufgabe der gesamten Gesellschaft und eines jeden Einzelnen. Insofern müsse man sich bei Demonstrationen schon fragen, mit wem man da demonstriere. "Der Rechtsextremismus hat tiefgreifende Wurzeln in unserer Gesellschaft, er ist eine ernsthafte Gefahr." Wer sich davon nicht aktiv abgrenze, "macht sich mit ihnen gemein".

"Das unerträgliche Bild von Reichsbürgern und Neonazis vor dem Reichstag darf sich nicht wiederholen – nicht vor dem Parlament und niemals im Parlament", sagte Justizministerin Christine Lambrecht am Wochenende. Jeder dürfe friedlich demonstrieren, "wer aber den Bundestag attackiert und Reichsflaggen schwenkt, zeigt nichts als Hass auf die Demokratie und Verachtung für alles, was unser Land ausmacht".

AfD spricht von "wenigen Randalierern"

Der Bundessprecher der AfD, Tino Chrupalla, erklärte auf Twitter, der "großartige Erfolg" des bürgerlichen Protestes der Berliner Großdemonstration gegen die Politik der etablierten Parteien werde "durch die wenigen Randalierer" nicht geschmälert. Der Co-Vorsitzende der Linken im Bundestag, Dietmar Bartsch, bedankte sich unterdessen bei den Polizisten dafür, dass sie den Angreifern den Weg versperrten: "Dieser mutige Polizist ohne Helm, der diesen Leuten den Zutritt verwehrt hat, sollte das Bundesverdienstkreuz erhalten."

Grünen-Chef Robert Habeck nannte die Bilder vom Samstagabend erschütternd. Es gehöre zwar zur demokratischen Debatte, über Maßnahmen gegen die Ausbreitung von Corona zu diskutieren. Wer aber mit Rechtsextremisten, Rassisten und Antisemiten mitmarschiere, mache sich mit dem Hass gemein. "Niemand kann so tun, als hätte er nicht gewusst, bei wem er mitläuft." (maa, APA, 31.8.2020)