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Sehnsucht nach Vermont: Louise Glück am Tag der Literaturnobelpreisbekanntgabe in ihrer Heimatstadt Cambridge, Massachusetts.

Foto: AP/Dwyer

Die Genugtuung, die US-Lyrikerin Louise Glück in einer ersten Reaktion über die für manche überraschende Zuerkennung des Literaturnobelpreises an sie ausdrückte, klang welthaltig – und darum umso echter. Sie könne sich jetzt, so Glück, um das in Aussicht gestellte Preisgeld (rund 860.000 Euro) aus Stockholm "ein Haus in Vermont kaufen".

Die angelsächsische Welt, in der Louise Glücks Poesie gekannt und ob ihrer düsteren Musikalität enorm geschätzt wird, nahm die Entscheidung der Stockholmer Akademie mit einhelliger Freude auf. Glücks Gedichte, häufig mit mythologischer Fracht beladen, besäßen "echohafte Bedeutungen", in denen sich der geduldige Leser "lange verheddern" könne. Wie denn die "New York Times" ausdrücklich die "grausame" Qualität von Glücks Poesie herausstreichen. "The Guardian" hingegen vermag sich überhaupt keine andere Dichterin vorzustellen, deren Stimme "so viel elektrisierende Unterströmung enthält".

"Literarische Werte mit Füßen getreten"

Zu einem vergleichbaren Lob wollten sich einige betont progressiv tönende Stimmen eher nicht hinreißen lassen. Die "Süddeutsche Zeitung" bedenkt Louise Glück – ohne Vorlage besonders stichhaltiger Gründe – mit dem Verdikt "gedanklichen Kitsches". Unpolitisch sei die Dichterin, desinteressiert an gesellschaftlichen Strukturen, konservativ bis ins Mark.

Kurz: "Die literarischen Werte", so die "Süddeutsche", "wurden mit dieser Preisentscheidung mit Füßen getreten." Als angeblicher Beweis für Glücks Nobelpreisunwürdigkeit muss ein Ausschnitt aus einem Gedicht über Bäume herhalten. Es verhält sich beinahe wie in Bertolt Brechts "An die Nachgeborenen": "Was sind das für Zeiten, wo / Ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist …"

Beweise von Missgunst

Mit ätzendem Hohn wird Glück darüber hinaus die Nichtverfügbarkeit der beiden deutschsprachigen Auswahltitel angelastet. Eine Fake-Biografie fügt das letzte Schäufelchen Missgunst hinzu: Eine Affäre mit Paul Auster soll Louise Glück gehabt haben. John Cale und Nico hätten einen Song über sie geschrieben; ihr selbst gebühre die Urheberschaft von Jacques Derridas Poststrukturalismus, und so weiter.

Eine Frau, die sich mit introvertierter Dichtung obendrein den Verwertungsgesetzen des Marktes entzieht, erntet Spott: Wiederum wird die Auszehrung des Literaturbetriebes deutlich – auch im internationalen Maßstab. Poesie soll nur dann vor den Vorhang gebeten werden, wenn sie sich voller Diensteifer der Politik zur Verfügung hält. Spurlos vergessen scheint, dass Poeten und Lyrikerinnen wie Wisława Szymborska und Tomas Tranströmer zu den wichtigsten Nobelpreisträgern der vergangenen 20, 30 Jahre zählten. Pocht dagegen ein literarisches Werk wie das von Louise Glück auf Eigensinn und Autonomie, wird der Imperativ der Quote sofort hinfällig.

Man darf die Nachfahrin von Sylvia Plath und Anne Sexton gedankenlos schmähen. Der Clou dabei: Ihrem Werk wird die Ignoranz, die ihm die Kommentatoren ungeniert entgegenbringen, noch selbst zur Last gelegt. (Ronald Pohl, 9.10.2020)