Gerade jetzt sind Führungskräfte gefordert, der Druck ist enorm. Führungskräfte hätten es aber durchaus in der Hand, heilende Reinigungsprozesse in Gang zu setzen.

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Kein Wunder, wenn jetzt aktuell rundherum alles zu viel wird. Führungskräfte sind gefordert wie kaum jemals davor, der Druck ist enorm. Trotzdem schnalzt die innere Peitsche: Du musst es schaffen!

Das allerbeste Rezept in dieser Situation, sagen Helga Pattart-Drexler, die Leiterin der Executive Academy an der Wiener Wirtschaftsuni, und Nathalie Karré, Managing Partner im Beraterhaus Accelor und Autorin von "Der Jungbrunnen-Effekt", ist: trennen. Dabei nehmen sie sich zum Vorbild, wie unsere Körperzellen das machen, wie Abfallvernichtung auf Zellebene im Körper funktioniert: durch bewusstes Fasten, bewusstes Trennen von weiterer Zufuhr auf eine bestimmte Zeit, ebenso wie das Programm des 16-Stunden-Fastens. Dadurch können sich die Zellen reparieren, belastende Rückstände verbrennen und das Material rezyklieren. Autophagie heißt dieser Prozess der Selbstreinigung.

Genau das gelingt auch bei sich selbst psychisch, im Team und damit im Unternehmen. Führungskräfte hätten es, so die beiden, durchaus in der Hand, heilende Reinigungsprozesse in Gang zu setzen. Anzufangen sei mit Trennung, also quasi dem Unterbrechen der Müllströme.

  • Energiefresser im Unternehmen entrümpeln

Gerade in großen Unternehmen haben sich häufig Projekte, Prozesse und Strukturen angesammelt, die – manchmal aus machtpolitischen Gründen, manchmal aufgrund mangelnder Reflexionsfähigkeit – weiterverfolgt werden, obwohl sie niemand vermissen würde. Dabei binden sie Ressourcen, Arbeitszeit und Arbeitskraft. Das System mit zu vielen Projekten und Tools vollzustopfen sorgt für Verzögerungen, Überforderungen, Ineffektivität und Frust im Team.

  • Macht und Ego zurücknehmen

Gerade in traditionellen, sehr hierarchisch strukturierten Unternehmen würden Machtverhältnisse zementiert und die, die am lautesten schreien, mit dem Aufstieg belohnt. "In solchen Strukturen nutzen Menschen oft die Leistung, Ergebnisse und Netzwerke anderer zu ihrem Vorteil", sagt Nathalie Karré. Dass einzelne Führungskräfte sich Lorbeeren für die Leistungen ihres Teams abholen, müsse der Vergangenheit angehören, meint auch Helga Pattart-Drexler. Sich mit lauter Mini-Mes zu umgeben, die das eigene Verhalten bestätigen, sei kontraproduktiv. "Führungskräfte sollten nach Mitarbeitern Ausschau halten, die besser und anders sind als sie", sagt Karré. Denn nicht der Vorteil für den Einzelnen zähle: "Erfolg setzt sich schließlich aus der Summe der Leistungen aller im Team zusammen." Wichtig sei laut Nathalie Karré, "sich zurückzunehmen und den Mitarbeitern und ihren Meinungen Raum zu geben".

  • Blockierende Glaubenssätze loslassen

Sich zu verabschieden von althergebrachten Praktiken sei unbedingt notwendig, wie etwa "die Idee, als Führungskraft kein Feedback zu benötigen", sagt Karré. Eine Führungskraft, die nie ehrliches Feedback erhält, könne kaum zu einer positiven Unternehmenskultur beitragen. "Führungskräfte müssen lernen, sich selbst ständig zu hinterfragen und zu reflektieren. Ich kann nur wachsen, und mein Team mit mir, wenn wir uns die eigenen blinden Flecken regelmäßig ansehen", sagt auch Helga Pattart-Drexler. "Leider sparen wir alle oft mit Lob und Anerkennung, gerade aber Führungskräfte brauchen positives Feedback."

  • Emotionalen Stress minimieren

Mit Selbstmanagement und Emotionsregulierung können stressbedingte Disbalancen ausgeglichen werden. Dazu gehöre, Emotionen zwar anzuerkennen, sie aber nicht unkontrolliert an anderen Menschen auszulassen und sich bei überbordendem Stress ausgleichende, beruhigende Aktivitäten zu suchen. Neun von zehn erfolgreichen Top-Managern würden meditieren, sagt Nathalie Karré. "Wer in sich selbst ruht und sein Leben in Balance hält – dazu gehören Arbeit, Freizeit, Familie, Gesundheit und Zeit für sich selbst –, der kann auch anderen Entwicklungsräume erlauben", sagt die Expertin. Wie gehe ich gut mit mir um, und wie gehe ich gut mit anderen – mit Mitarbeitern, Kooperationspartnern – um?

  • Kontrolle für alles aufgeben

"Relax, nothing is under control." Dieser Spruch hat sich spätestens seit der Corona-Krise mehr als bewahrheitet. "Wir können uns nicht mehr für alles absichern, nicht mehr alle Faktoren in Entscheidungen einbeziehen und daher weder planen noch kontrollieren", sagt Helga Pattart-Drexler. Kontrolle gibt zwar vermeintlich Sicherheit, ist in der Wirtschaft – und Gesellschaft – des 21. Jahrhunderts aber eine Illusion. Häufig haben Führungskräfte immer noch Angst vor einem Gesichtsverlust, wenn Fehler passieren. "Endlich stehen wir nun – paradoxerweise wegen Corona – vor der Situation, dass Unternehmen ihren Mitarbeitern mehr vertrauen, allerdings wird nun reglementiert, wie der Heimarbeitsplatz genau auszusehen hat", sagt Nathalie Karré. "Das ist absurd."

  • Falsche Verantwortung ablegen

Sich für alles verantwortlich fühlen und für die Mitarbeiter entscheiden zu müssen, Experte für alles sein und alles wissen zu müssen: Diese Glaubenssätze stammen noch aus Command-and-Control-Führungsmustern. "Es kann und muss auch nicht alles von Führungskräften abgedeckt werden", sagt Helga Pattart-Drexler. Führungskräfte müssen heute zunehmend das große Ganze im Auge behalten: das Zusammenspiel des Teams, die strategische Ausrichtung, die Ziele des Projekts, der Abteilung, des Unternehmens. Micromanagement belastet und stresst nicht nur die Führungskraft, sondern auch die Beziehung zu den Mitarbeitern. Verantwortung abzugeben wird also zur Notwendigkeit, um den Kopf für die Menschen- und Strategieführung freizubekommen.

  • Hohle Phrasen sein lassen

Leitbilder und an Wände gepinnte Wertegebote sind zwar nett, greifen aber zu kurz. "Sobald Werte in den Unternehmen tatsächlich auch gelebt werden, haben Führungskräfte eine gemeinsame Richtung, und das Engagement der Mitarbeiter steigt", sagt Nathalie Karré. Führungskräfte seien hier als Umsetzer der Wertekultur gefragt – schließlich hätten sie Vorbildfunktion.

  • Blaupausen und Rezepte entsorgen

Da sich Mitarbeiterführung darauf konzentriert, dass Menschen sich entwickeln und entfalten können und Eigenverantwortung übernehmen, müssen Führungskräfte auch lernen, situativ zu führen. "Jeder Mensch ist anders. Manche benötigen mehr Freiraum und entscheiden gern selbst, andere brauchen mehr Führung und Struktur", so Helga Pattart-Drexler. Nach dem Gießkannenprinzip alle gleich zu führen sei wenig sinnvoll und sogar kontraproduktiv. Sich mit der Persönlichkeit der Mitarbeiter auseinanderzusetzen sei eine der wichtigsten Führungsaufgaben überhaupt, so Nathalie Karré. (Karin Bauer, 10.11.2020)