Für Barbara Prainsack ist eine Impfpflicht nur unter sehr spezifischen Bedingungen denkbar. Im Fall von Covid-19 sind diese Voraussetzungen (noch) nicht erfüllt.

Heribert Corn

Auch in Österreich hat die Diskussion über eine Covid-19-Impfpflicht Fahrt aufgenommen. Zwar wird eine generelle Verpflichtung abgelehnt. Doch insbesondere für Gesundheits- und Pflegeberufe mehren sich die Stimmen, die eine Covid-19-Impfung als Voraussetzung für die Berufsausübung sehen.

Die Politikwissenschafterin Barbara Prainsack forscht seit Jahren (bis 2017 am King's College in London, seither an der Uni Wien) über gesundheitspolitische Fragen. Sie ist außerdem seit 2009 Mitglied der österreichischen Bioethikkommission und seit 2017 Mitglied der European Group on Ethics and New Technologies. Die international renommierte Sozialwissenschafterin gehört auch dem Corona-Fachrat des STANDARD an.

STANDARD: Sie erforschen mit dem Team des Corona-Panel-Austria-Projekts die Einstellungen der Österreicherinnen und Österreicher zu verschiedenen Aspekten rund um Covid-19. Wie sieht es mit der Bereitschaft aus, sich gegen Covid-19 impfen zu lassen?

Prainsack: In unseren Corona-Panel-Daten haben wir von Mai bis Oktober eine abnehmende Impfbereitschaft gegen Covid-19 gesehen – während bei der Grippe die Impfbereitschaft zu steigen scheint. Zudem zeigt sich, dass sehr viele Menschen, die Vorbehalte gegen die Covid-Impfung haben, keine typischen Impfgegner sind. Wir dürfen zwar annehmen, dass die positiven Studienergebnisse, die im November zu den Impfstoffen veröffentlicht wurden, bei einigen Leuten ein Umdenken bewirkt haben. Aber auch laut den jüngsten Gallup-Umfragen will sich nur eine knappe Mehrheit impfen lassen.

STANDARD: Was ist Ihre Erklärung für diese geringe Impfbegeisterung?

Prainsack: Es ist nun einmal eine Tatsache, dass die Impfungen gegen Covid-19 neuartig sind und wir anders als etwa bei der Grippe noch keine langjährigen Erfahrungen haben. Aus den Studien wissen wir zwar über kurzfristige Impffolgen wie Fieber und Kopfweh recht gut Bescheid, aber nichts über mögliche langfristige Nebenwirkungen.

STANDARD: Was bedeutet das für eine Impfpflicht, die Sie mit Ihren Kolleginnen und Kollegen in der Bioethikkommission diskutierten?

Prainsack: Dass eine allgemeine Corona-Impfpflicht aus ethischer Sicht nicht zulässig ist. Wir haben uns auch nicht für eine voraussetzungslose Impfpflicht in den Gesundheitsberufen bzw. Berufen mit engem Körperkontakt ausgesprochen, was nicht überall ganz richtig dargestellt wurde. Die wäre aus unserer Sicht nur zulässig, wenn die Impfung auch vor Ansteckungen schützen würde. Aber das ist nach gegenwärtigem Wissensstand nicht der Fall.

STANDARD: Sollte sich herausstellen, dass die Impfung auch vor der Weitergabe des Virus schützt, …

Prainsack: … dann, und nur dann wäre es zu rechtfertigen, dass man nur geimpfte Menschen in Berufen, in denen man körpernah mit anderen Menschen zu tun hat, diese Tätigkeiten ausüben lässt.

STANDARD: Sie haben sich in der Bioethikkommission auch ausführlich mit der Priorisierung bei der Verteilung des Impfstoffs befasst. Hier kamen Sie zu einer Reihenfolge, die auch fast überall sonst gilt.

Prainsack: Richtig. Unsere Priorisierungskriterien waren die Vulnerabilität, die besondere Stellung im Epidemiegeschehen und die Rolle in der Aufrechterhaltung des öffentlichen Lebens. Sprich: Es sollten also jene Personen zuerst geimpft werden, die in Gesundheitsberufen oder der Pflege arbeiten, und jene, die ein besonderes Risiko haben, schwer zu erkranken – immer unter der Voraussetzung, dass sich diese Personen auch impfen lassen wollen. Wenn also Impfstoff knapp ist und es darum geht, Altenheime möglichst gut zu schützen, dann würden zuerst die Pflegerinnen und Pfleger geimpft werden und dann erst die zu Pflegenden, beginnend mit jenen mit der höchsten Vulnerabilität.

STANDARD: Gäbe es denn aus Ihrer Sicht überhaupt denkbare Bedingungen für eine Impfpflicht?

Prainsack: Man müsste erstens wissen, dass die Impfung vor der Erkrankung und der Weitergabe effektiv schützt. Zweitens hängt es davon ab, wie schwerwiegend die Bedrohung durch die Krankheit ist, und drittens muss auch ein Staat dazu bereits sein, eine solche Impfpflicht durchzusetzen. Fälle, bei denen alle drei Voraussetzungen erfüllt werden, sind sehr rar. Und selbst dann würde ich persönlich eher auf Überzeugungsarbeit setzen als auf eine Impfpflicht.

STANDARD: Persönliche Zwischenfrage: Werden Sie sich impfen lassen?

Prainsack: Ja. Aber nur, weil ich mich so entscheide, heißt das nicht, dass ich eine Position unterstütze, die das auch von allen anderen fordert.

STANDARD: Nun gibt es das Problem, dass zum Erreichen der Herdenimmunität eine Durchimpfungsrate von vermutlich rund 60 bis 70 Prozent nötig ist. Wie könnte man die ohne Impfpflicht am besten erreichen?

Prainsack: Grundsätzlich ist aus sozialwissenschaftlichen Studien – unter anderem von meiner Kollegin Katharina Paul – bekannt, dass eine Impfpflicht durchaus auch kontraproduktive Effekte haben kann. Eine Impfpflicht ist bei eingefleischten Impfgegnern ohnehin wirkungslos. Doch auch bei Menschen, die sich überzeugen lassen würden, löst eine Impfpflicht oft eine Gegenreaktion aus. Wichtig ist es, die Impfungen sehr niederschwellig und kostengünstig anzubieten, wie sich zuletzt bei der Grippeimpfung in Wien gezeigt hat. Zudem wissen wir aus Untersuchungen, dass nicht nur Aufklärung, sondern auch Dialog wichtig ist.

STANDARD: Was bedeutet das konkret?

Prainsack: Dialog bedeutet aus meiner Sicht, gegenüber den Gedanken, Sorgen und Hoffnungen der Menschen offen zu sein. Und es gibt derzeit viele Dinge rund um die Impfungen, die wir und auch die Fachleute noch nicht wissen, also etwa: wie lange der Schutz anhält, wie sich die Impfungen tatsächlich auf das Infektionsgeschehen auswirken oder ob es langfristige Nebenwirkungen geben könnte. Für solche Dialoge muss man auch die nötigen Räume bereitstellen. Gute Medien können natürlich auch solche Foren bieten.

STANDARD: Könnte es helfen, wenn – so wie in den USA – Prominente und Politiker vorangehen und sich öffentlich impfen lassen?

Prainsack: Es ist sicher gut, sich so etwas zu überlegen. Aber als Sozialwissenschafterin würde ich erst einmal die Daten abwarten, um zu sehen, ob das wirklich positive Effekte hat. Bei Prominenten und insbesondere bei Politikern hängt es sicher auch davon ab, ob die Menschen diese Promis und diese Politiker auch tatsächlich mögen und ihnen vertrauen. Mitunter können solche Aktionen auch oberlehrerhaft wirken.

STANDARD: Ein weiterer Anreiz könnte sein, dass man sogenannte Immunitätspässe einführt, die bestimmte Dinge wie etwa den Besuch von Massenveranstaltungen ermöglichen. So etwas wird gerade in Großbritannien heftig diskutiert. Was halten Sie davon?

Prainsack: Ich kann hier nur als einzelne Wissenschafterin sprechen, da wir diesen Punkt in der Bioethikkommission nicht abschließend diskutiert haben. Ich halte aus den obengenannten Gründen nichts von Immunitätspässen im Zusammenhang mit Covid-19 – auch deshalb, weil wir noch nicht definitiv ausschließen können, dass geimpfte Personen das Virus nicht doch bekommen und ansteckend sein können.

STANDARD: Und wenn eine Impfung wirklich auch vor der Weitergabe schützen sollte?

Prainsack: Dann könnte ein solcher Immunitätspass immer noch massiv diskriminierende Eigenschaften in sich bergen, weil dadurch etwa die Mobilität der marginalisierten und vulnerablen Gruppen weiter eingeschränkt wird. Ich halte es im Übrigen für bezeichnend, dass man in Großbritannien Geschäftsreisenden ob ihrer wirtschaftlichen "Wichtigkeit" die Quarantäne erlassen will. Das legt den ideologischen Unterbau dieser britischen Ideen auch rund um den Immunitätspass frei: Es geht um Privilegien für eine vor allem ökonomische Elite.

STANDARD: Die Empfehlungen der Bioethikkommission enden mit dem etwas abstrakten Satz: "Die individuelle Freiheit ist nicht ohne Verantwortung für sich und seine Mitmenschen zu haben." Was bedeutet das konkret?

Prainsack: Das bedeutet, dass es einerseits bei den Impfungen Freiwilligkeit braucht. Andererseits weist er darauf hin, dass wir als Bürgerinnen und Bürger diese autonome Entscheidung, uns gegen die Grippe oder gegen Covid-19 impfen zu lassen, nie nur als Individuen treffen, sondern auch als Teil der Gesellschaft. Man entscheidet sich also auch, ob und wie man andere Menschen schützt. Diese Entscheidung kann auf individueller Ebene aber natürlich auch so ausgehen, dass man sich nicht impfen lässt. Ich halte das für akzeptabel. (Klaus Taschwer, 8.12.2020)