Filterblasen, alternative Fakten – soziale Netzwerke sorgen für Skepsis. Von den meisten unbemerkt, haben sie sich in den letzten Jahren aber auch zum Platz für Poesie entwickelt. Der heißeste Ort dafür ist ausgerechnet die Fotoplattform Instagram. Über 14 Millionen Beiträge wirft das Schlagwort #poetsofinstagram auf. Der unbestrittene Star ist Rupi Kaur mit 4,1 Millionen Followern. Ihre aus Posts kompilierten Bücher wie Home Body (2020) haben sich millionenfach verkauft und stehen auf der Lyrikbestenliste von Amazon ganz oben. Progressive Reimschemata wird man in ihnen allerdings vergeblich suchen, stattdessen Mutmachbotschaften und Sinnsprüche finden. Diese Texte sind emotional, zugänglich, in ihnen herrscht keine Angst vor Pathos und Kitsch, sie erfüllen eine Funktion vor der Form: Leser verstehen, annehmen, aufheitern.

Die indischstämmige Kanadierin Rupi Kaur (28) ist der große Star unter den sogenannten "Instapoets". Millionen Nutzer folgen ihr auf der Plattform – und kaufen ihre Bücher.
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Doch nicht nur deshalb sprechen Instapoets wie Kaur Fans aus der Seele. Dazu trägt auch bei, dass die indischstämmige Kanadierin oft diverse und feministische Perspektiven einnimmt, die am klassischen Markt schwer zu finden sind. Neben Liebe geht es um Gewalt gegen Frauen und migrantische Erfahrungen.

Wenn seit Jahren von einer Krise der Lyrik die Rede ist und davon, dass sich Gedichtbände kaum mehr verkaufen, macht jemand die Rechnung ohne solche Namen. Oder?

Klassik vor Neugier

Für klassische Verlage ist die Diagnose jedenfalls berechtigt. Weniger als ein Prozent seines Umsatzes erwirtschaftet der Buchhandel mit Gedichtbänden. Unter den meistverkauften Lyriktiteln finden sich zudem nur selten oder weit hinten Zeitgenossen. Klassiker und "Longseller" wie Erich Kästner, Rilke oder Mascha Kaléko dominieren. Die Zeit, als neue Lyrikbände kleine Ereignisse waren, sind lang vorbei. 500 verkaufte Exemplare können heute schon als großer Erfolg gelten.

Viel Freude hatte zuletzt Luchterhand mit dem Nobelpreis für Louise Glück. Mit den Verkaufszahlen sei man zufrieden, kurzzeitig war man sogar auf den Bestsellerlisten. Wallstein, wo zeitgenössische und kanonisierte Dichter erscheinen, erklärt, die "formalen, inhaltlichen und sprachlichen Kriterien" für Publikationen hätten sich "über die Jahre im Grunde nicht geändert".

In diese Gemengelage ist 2003 der Berliner Independent-Verlag Kookbooks eingestiegen. "Damals wurden gerade viele Lyrikprogramme in Verlagen aufgegeben. Gleichzeitig gab es eine starke junge Generation. Ich bin selbst Autorin, und so bin ich Verlegerin geworden, ohne das je vorgehabt zu haben", sagt Gründerin Daniela Seel. Heute ist Kookbooks eine wichtige Adresse in der Szene.

"Dichterinnenselbstverteidigung"

Inzwischen gibt es mehr Verlage, die aus Mangel an der nötigen Infrastruktur von Dichtern selbst betrieben werden. "Dichterinnenselbstverteidigung" nennt Seel das gerne. Es ist aber nicht einfach. Aus den Verkäufen lasse sich nichts finanzieren. Seel verdient als Autorin mehr als mit dem Verlag. "Man muss froh sein, wenn er keinen Verlust schreibt. Wir können aber auch nur ein überschaubares Programm machen, weil der Markt nicht mehr aufnimmt. 20 Lyriktitel im Jahr werden nicht eingekauft und nicht besprochen. Wir machen sieben."

Gegenüber dem Schlagwort Instapoetry ist Seel extrem skeptisch. Sie sei auch auf Instagram, manche Autoren hätten Lust, dort zu publizieren. Aber Erfolgsgeschichten wie die von Rupi Kaur seien kein breiter Trend, sondern Ausreißer. "Es gibt Kaur und dann lange nichts." Das Phänomen wird für Seel folglich seit Jahren "total aufgebauscht".

Amanda Gorman hat mit ihrem Auftritt für Joe Biden im Jänner die Aufmerksamkeit für Lyrik rasant erhöht.
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Mehr von der analogen Szene hält auch der Tiroler Robert Prosser. Von 2013 bis 2018 hat er Babelsprech mitkuratiert. Es war der erste Versuch seiner Art, ein Netzwerk der jungen Lyrikszene für den ganzen deutschsprachigen Raum zu schaffen. In der Lyrik passiere derzeit mehr Spannendes als in der Prosa, sagt Prosser. Die Szene sei sehr divers, auch weil es den Druck der Vermarktbarkeit nicht gebe. Andererseits fehle ihr dadurch Sichtbarkeit.

Der Dichter tritt auf

Wenn er die junge Generation stilistisch charakterisiert, betont er das Live-Erlebnis. "Das Bühnengeschehen kann man nicht mehr ausklammern. Viele Dichter denken den Auftritt schon mit, kommen aus interdisziplinären Bereichen zu Schauspiel oder Musik." Diese Verschiebung zeigt sich auch daran, dass heute kaum mehr ein Literaturhaus ohne Poetry-Slams auskommt. Deren Akteure sind teils als Kuratoren in etablierte Strukturen eingesickert, etwa Slammerin Mieze Medusa in der Alten Schmiede.

Was er mit Lyrik meint, will Prosser aber davon unterschieden wissen. "Denn wesentlich ist für diese Leute immer noch das Buch. Die letzte Instanz ist der Text auf dem Papier, der muss funktionieren, das ist Literatur, da führt kein Weg dran vorbei." Insofern sind Verlage nach wie vor wichtig. Es zeichne einen Autor auch aus, bei einem bestimmten Verlag zu sein. Hierzulande fällt ihm für sein gutes Programm Ritter ein.

Websites toppen Verlage

Wo rangiert also das Internet? Tatsächlich lassen sich Verse gut auf Handys darstellen und auch schnell zwischendurch wahrnehmen. Das können sich Webseiten zum Vorteil machen. Fixpoetry etwa verzeichnete zuletzt 750.000 Aufrufe im Jahr, 2020 war wegen Finanzierungsproblemen aber Schluss. Das Bedauern der Szene war groß, und die Bekundungen, solche Webseiten seien inzwischen wichtiger für die Verbreitung von Lyrik als Verlage, waren zahlreich. Monetarisierungsmodelle für Lyrik im Netz müssen erst gefunden werden. Manche denken in Richtung Spotify oder an kostenpflichtige Einzeldownloads.

Hilfe kommt derweil von unerwarteter Stelle. Auf Apple+ garniert aktuell die zweite Staffel einer Serie über die Dichterin Emily Dickinson deren Schreiben mit üppigen Kostümen, Feminismus und lesbischer Romantik. Möglich, dass das manche Zuschauer zu Lesern macht. Dann wird sich Dickinson auch mit The Hill We Climb von Inaugurationspoetin Amanda Gorman um die Top-Verkaufsplätze streiten. Im März erscheint es auf Deutsch. (Michael Wurmitzer, 6.2.2021)