Allzu oft wird der Begriff falsch interpretiert – als die Sprache der Mutter, in der diese mit ihrem Kind kommuniziert. Muttersprache bezieht sich auf die Sprache, in der das Kind vom Beginn seines Lebens an sozialisiert wird, mit der es heranwächst und die es auf natürliche Weise erwirbt. Natürlich ist die Sprache des Vaters auch eine Muttersprache für das Kind. Und weil dieser Begriff dazu verleitet, ihn missverständlich zu interpretieren, ersetzt ihn die Sprachwissenschaft heute mehr und mehr durch den Begriff Erstsprache.

Die Mutter in der Sprache

Aber so ganz falsch ist der Begriff nicht, denn die Sprache der Mutter ist die Sprache, die das Kind am intensivsten hört. Ungefähr ab der 23. Schwangerschaftswoche kann das ungeborene Kind hören, besonders die Stimme der Mutter, die über Schallwellen in den ganzen Körper übertragen werden. Gedämpft hört das Kind natürlich auch, was in seiner Umgebung gesprochen wird. Ab diesem Moment beginnt sich Sprache zu entwickeln. Es darf also nicht verwundern, wenn bereits Neugeborene zwischen bekannter und unbekannter Sprache unterschieden können. Dieses Phänomen beschreibt zum Beispiel der deutsche Sprachwissenschafter Jürgen Dittmann. Sprachentwicklung beginnt lange bevor das Kind spricht.

Immer noch ist es in unserer Gesellschaft hauptsächlich Aufgabe der Mutter, die Kinder großzuziehen, vor allem in den ersten Lebensjahren – auch wenn in den letzten Jahrzehnten zunehmend mehr Väter in Elternzeit gehen. Großteils kommt der Sprachinput von der Mutter, und das meist über Jahre. Die Mutter ist dabei der sprachliche Orientierungspunkt, aber zugleich die Person, die mittels Sprache Emotionen und Realität vermittelt, jene Elemente, die von zentraler Bedeutung für die Sprach- und Persönlichkeitsentwicklung sind. Gesellschaftspolitik, Familienpolitik, Arbeitsmarktpolitik, aber auch gesellschaftliche Konventionen sind immer noch auf Mütter fokussiert, die die kindliche Erziehung tragen. Während der aktuellen Pandemie wird dies besonders deutlich.

Dabei zeigt sich, wie wichtig Bildungsstatus und kulturelles Kapital der Mutter für den schulischen Erfolg des Kindes sind, vor allem in Bildungssystemen wie dem österreichischen.

Am 21. Februar begeht die Unesco den Tag der Muttersprache.
Foto: https://www.istockphoto.com/de/portfolio/julnichols

Überholte Konzepte

Der Begriff Muttersprache an sich ist nicht problematisch, sehr wohl aber die überholten Konzepte, die dieser transportiert. Zu ihnen gehört, dass man nur eine Muttersprache im Leben hat. Wenn Kinder von klein auf mit zwei Sprachen aufwachsen, sind beide ihre Muttersprachen. Auch haftet diesem Begriff der Beigeschmack an, man müsse seine Muttersprache perfekt können, und wenn dem nicht so ist, könne man keine weitere Sprache gut erwerben oder erlernen. Natürlich ist es erstrebenswert, dass Kinder ihre Erstsprache(n) so gut wie möglich verinnerlichen, oft ist aber eine andere Sprache die Bildungssprache – und diese wird meist auf einem höheren Niveau erworben als die Erstsprache, ein bekanntes Phänomen im Spracherwerbsverlauf von bilingualen und mehrsprachigen Personen. Es muss auch nicht zwangsläufig bedeuten, dass man seine Erstsprache schlecht beherrscht: Sie kann einen anderen Entwicklungsverlauf genommen haben, es wurden in ihr andere Kompetenzen erworben oder das Kind ist in der Lage, Kompetenzdefizite zu einem späteren Zeitpunkt auszugleichen.

Es ist auch nicht notwendig, zuerst eine Muttersprache gut zu können, bevor die nächste Sprache erworben werden kann. Leider hält sich dieses Vorurteil hartnäckig, aber Kinder sind absolut in der Lage, gleichzeitig zwei oder sogar mehr Sprachen zu erwerben, ohne dabei verwirrt oder gegenüber monolingual aufwachsenden Kindern benachteiligt zu sein. Sonst würde es wohl kaum weltweit so stark verbreitete individuelle Mehrsprachigkeit geben. Kinder erwerben zum Beispiel Baskisch und Spanisch ohne weiteres zeitgleich, oder Ungarisch und Deutsch, um die Sprachkombination einer in Österreich lebenden autochthonen Volksgruppe als Beispiel zu nennen.

Gegenwart, Vergangenheit, Zukunft

Muttersprache ist ein verstaubter Begriff, hauptsächlich wegen seiner nicht mehr zeitgemäßen Konnotationen. Wir leben in einer Gesellschaft, in der Sprachenvielfalt heute deutlich ausgeprägter als noch vor wenigen Jahrzehnten ist, sei es durch Globalisierung, durch stetig wachsende Mobilität oder durch Digitalisierung. Kinder wachsen mittlerweile nicht selten sogar mit drei Sprachen auf, ihre Eltern kommunizieren vielleicht in einer vierten Sprache als Lingua franca und so weiter. Um die neuen sprachlichen Situationen zu beschreiben, die sich durch eine immer enger miteinander verflochtene Welt ergeben, brauchen wir auch neue Begriffe, sei es Herkunftssprache, Familiensprache, Erstsprache oder auch Herzsprache, denn jeder dieser Begriffe beschreibt nur einen Teilaspekt eines größeren Ganzen, eines faszinierenden Kosmos: den der kindlichen Sprachentwicklung.

Aber ebenso wie man einen alten vertrauten, aber leicht verstaubten Gegenstand nicht entsorgt, sondern behutsam reinigt und damit Einblick nimmt in die Vergangenheit, sollten wir Muttersprache als Bezeichnung nicht entsorgen, sondern uns vor Augen führen, dass sich unsere Welt verändert und mit ihr auch die Bedürfnisse unserer Kinder in ihrem Heranwachsen und in ihrer Entwicklung. Und wir sollten es nicht dabei belassen, neue Begriffe zu schaffen, sondern für Rahmenbedingungen sorgen, unter denen sich kindliche Mehrsprachigkeit gut entfalten und entwickeln kann und zugleich die Chance auf gute Bildung nicht vom sozialen Status abhängt, sondern jedem Kind in gleicher Weise offensteht. (Zwetelina Ortega, 21.2.2021)