Es geht doch nichts über eine gesunde Portion Zynismus bei ausgewogener Ernährung und ausreichend Mittagsschlaf: Das muss sich Wladimir Grigorjan gedacht haben, als er den über Schmerzen klagenden inhaftierten Oppositionellen Alexej Nawalny zum Simulanten abstempelte. Eigentlich soll Grigorjan als Mitglied des regionalen Anstaltsbeirats die Rechte von Gefangenen schützen und ihre Klagen prüfen. Stattdessen stellte er Nawalnys Simulantentum als Ferndiagnose, ohne ihn überhaupt besucht zu haben. Einfach weil er der Gefängnisverwaltung mehr traut als dem Gefangenen.

Aus Protest gegen fehlende ärztliche Hilfe im Gefängnis ist Alexej Nawalny in einen Hungerstreik getreten.
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So ist das eben, wenn man mehr als 30 Jahre lang selbst im Gefängnis gearbeitet hat. Dabei handelt es sich um keinen Einzelfall. Die Anstaltsbeiräte, die eigentlich die zivilgesellschaftliche Kontrolle über den Strafvollzug ausüben sollen, sind voll von sogenannten Silowiki.

Das wirkt sich auf die Zustände in den Gefängnissen aus: Erniedrigungen und Misshandlungen sind an der Tagesordnung. Und während Nawalny als mediale Person noch die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf sich richten kann, sind die meisten anderen Häftlinge in Russland den Schikanen schutzlos ausgeliefert. Ob Nawalny mit dem Hungerstreik tatsächlich die geforderte medizinische Behandlung erzwingen kann, bleibt abzuwarten. Angesichts des Zynismus der Behörden könnte die Geschichte auch mit dem Tod des "Simulanten" enden. Dann würde der Kreml sagen: "Jetzt übertreibt er aber." (André Ballin, 1.4.2021)