Wie bebildert man Diplomatie? Weil die tausendste Aufnahme einer Zusammenkunft aus sich stark ähnelnden Anzug- und Kostümträgerinnen Redaktionen wie Leserschaft langweilt, greifen Medien gerne zu Bildern von Flaggen. Die sind schön bunt, wehen im besten Fall noch ein wenig im Wind und haben hohen Wiedererkennungswert. Die Flaggen, die der Bebilderung dieses Artikels dienen, sind vielen aber wohl weniger bekannt als etwa US-amerikanische Stars and Stripes oder der britische Union Jack.

Tokio, Amsterdam, Greater London, New York City, Nairobi, Wien: Laufen die Städte den Staaten den Rang ab?
Illustration: Fatih Aydogdu

Dennoch sind sie Erkennungsmerkmale politischer Verwaltungsebenen, die die Weltpolitik immer öfter und deutlicher beeinflussen. Weltmetropolen wie Tokio, New York, Amsterdam oder London waren seit Jahrhunderten wichtige Machtzentren, selten zuvor traten die Stadtoberhäupter aber so selbstbewusst und so ambitioniert auf dem internationalen Parkett auf wie in den vergangenen Jahren. So positionierten sich Bürgermeister in den rechtskonservativ regierten Visegrád-Staaten für eine humanitäre Flüchtlingspolitik und scherten damit aus einem scheinbar geltenden, aber ohnehin nicht haltbaren nationalen Konsens aus.

Bürgermeister versus Regierung?

Auch in den USA machten Stadtvorsteherinnen und Bürgermeister mehrere US-Metropolen gegen Donald Trumps restriktive Flüchtlings-, aber auch dessen rückständige Klimapolitik mobil. Sie gelobten etwa nach dem Austritt der USA aus den Pariser Klimazielen, sich selbstständig und freiwillig an die Vorgaben halten zu wollen.

Wien versuchte in der Corona-Pandemie immer wieder zu den sogenannten Overachievers zu gehören, mauserte sich etwa in Sachen Gratis-Test-Angebot zu einem globalen Vorzeigeprojekt und inszenierte sich wiederholt bewusst als Gegenmodell zum Bund. Als Politkenner und "Heute"-Chefradakteur Christian Nusser unlängst in seinem Newsletter der Frage nachging, wer die Bundes-SPÖ statt Pamela Rendi-Wagner führen könnte, stellte er wohl nicht zu Unrecht fest, dass Wiens Bürgermeister Michael Ludwig "von einem wilden Affen gebissen sein müsste, den besten Politjobs des Landes aufzugeben". Dabei sind Hauptstadtbürgermeistersessel international gesehen immer öfter Tickets ins formal wichtigste Amt des Staates.

Aber ist Hauptstadtbürgermeister echt der bessere Posten als Bundeskanzler? Klar ist, dass sich Bürgermeister abseits festgefahrener diplomatischer Traditionen relativ flexibel mit Gleichgesinnten koordinieren und politisch aktiv werden können. Treffen mit den Bürgermeistern der Hauptstädte der österreichischen Nachbarländer gehören mittlerweile zur Routine des Wiener Rathauschefs. International zählen Städtebotschaften "globaler Städte" in anderen Metropolen oder lukrativen Zukunftsmärkten mittlerweile immer öfter zum guten Ton. Es geht darum, direkter, radikaler und schneller zu kooperieren.

Klub der Bürgermeister

Stadtpolitikerinnen schließen sich zudem immer öfter auch formell zusammen. Sie vernetzen und treffen sich, um ihren Anliegen größeres Gehör zu verschaffen. In den 1980ern existierten rund 50 solcher Klubs und Organisationen, mittlerweile sind es mehr als 300. Die Städtediplomatie nimmt mehr Raum ein und reklamiert diesen auch für sich. Sie heißen unter anderem Mayors for Peace, Mayors for Climate Action oder Mayors for Universal Income. Es scheint, als gäbe es für jede progressive politische Forderung eine Mayors-Vereinigung. "Die Nationen reden, die Städte handeln", begründete der New Yorker Ex-Bürgermeister und gescheiterte Bewerber für die demokratische Präsidentschaft Michael Bloomberg einst seine Engagements in den klimapolitisch einflussreichen Klubs C40 oder dem Global Covenant of Mayors.

Die Pariser Bürgermeisterin Paris Anne Hidalgo mit US-Klimabeauftragten John Kerry unterhielten sich, wie die Pariser Klimaziele umgesetzt werden können.
Foto: Stephane de Sakutin / AFP

Schnell wird hierbei oftmals die vereinfachte Schlussfolgerung gezogen, wonach ebenjene Konfrontation zwischen progressiven Stadtpolitikern und reaktionären Nationalpolitikern eine neue Bruchlinie der internationalen Politik sei. Modern versus traditionell, vegane, radelnde Klimaschützer versus dieselfahrende Fleischliebhaber vom Land.

So einfach ist diese Rechnung freilich keinesfalls. Was aber so gut wie jedes Wahlergebnis der vergangenen Jahrzehnte zeigt, ist, dass progressive, grüne oder auch linksliberale Parteien eher in den urbanen Ballungszentren reüssieren. Der unterlegene Bundespräsidentschaftskandidat Norbert Hofer von den Freiheitlichen teilte erst unlängst wieder eine tiefblau eingefärbte politische Landkarte Österreichs in den sozialen Medien, die in den entscheidenden Regionen aber nun mal grün war. Nämlich dort, wo die Masse der Menschen lebt und mehrheitlich für Alexander Van der Bellen votiert.

Progressiv versus reaktionär?

Liegt das nun daran, dass derartig eingestellte Menschen eher in die Ballungszentren ziehen, oder werden studierende Kinder in der Hauptstadt tatsächlich einer grünen Gehirnwäsche unterzogen, wie es ÖVP-Klubobmann August Wöginger einst vom Rednerpult polterte? Mal so, mal so, könnte man antworten. Vielen jungen Menschen bieten sich in Städten Möglichkeiten, die sich in der Idylle (oder Tristesse) auf dem Land nicht finden. Andere fliehen freilich gerade erst deshalb in die Städte, weil es daheim an Perspektiven mangelt! Raubt die Stadt damit dem Land gar seine Zukunft?

Benoît Breville formulierte es in der "Le Monde diplomatique" recht drastisch: "Während Großstädte über Landesgrenzen hinweg immer engere Bande knüpfen, koppeln sie sich von Teilen des eigenen Landes ab. Ihre immer gleichen Formeln von Innovation, Offenheit, Nachhaltigkeit und Kreativität können nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie sich auf eine nie dagewesene Art und Weise auf Kosten anderer Regionen bereichern."

In Städten konzentriert sich immer wieder Macht und Wohlstand.
Foto: imago images/Dirk Sattler

Eine reiche Stadt auf Kosten der Landbevölkerung? Für Wiens Ex-Bürgermeister Michael Häupl ein ausgemachter "Blödsinn" (siehe Interview). Die berühmte Landflucht lässt sich mit ökonomischen Kennzahlen beeindruckend festmachen. 70 Prozent aller neuen britischen Jobs seit 2008 entstanden in der Metropolregion London! Die globale Finanzkrise traf die ländlichen Regionen ungleich härter als große Bevölkerungszentren.

Während das französische Pro-Kopf-BIP in den acht Jahren seit der Krise stagnierte, stieg es in Paris um satte drei Prozent. Während die Erwerbsquote in US-Metropolregionen im selben Zeitraum um fast fünf Prozent stieg, sank sie im ländlichen Teil der USA um mehr als zwei Prozent. Und die populistischen Erfolge von Marine Le Pen in Frankreich, den Brexiteers in Großbritannien und Donald Trump in den USA wurden ausgerechnet dort erzielt, wo die Immobilienpreise aufgrund des starken Wegzugs einbrachen, analysierte Breville kürzlich.

Symbiotische Selbstvermarktung

Es steht außer Frage: Städte boomen, dort konzentrieren sich Wirtschaft und Macht, und sie ziehen Menschen an. Gab es 1950 noch rund 80 Millionenstädte, sind es heute deutlich über 500. Einige der Metropolregionen wären ob ihrer Wirtschaftsleistung selbst in den G20, den wichtigsten und größten Industrienationen vertreten. Seoul erwirtschaftet die Hälfte des südkoreanischen BIP, Ähnliches gilt für Tel Aviv und Israel.

Die zahlreichen Städtepartnerschaften, die sich vor allem seit der deutsch-französischen (Zwangs-)Annäherung nach dem Zweiten Weltkrieg herausbildeten, sind außerdem mehr ein Zeichen eines symbiotischen gegenseitigen Pushens, als dass mit Ellbogen gearbeitet und versucht wird, andere Städte auszustechen. Nicht zuletzt wird vor allem aber auch das Marketing in den jeweiligen Stadtregierungen professionalisiert. Keine Stadt kommt mehr ohne Instagram-Account mit den trendigsten Tipps für Foodies und Blogger aus, kein Reiseführer ohne fragwürdige Vergleiche à la "das Venedig des Nordens", "das Barcelona des Ostens" oder "das Berlin am Mittelmeer".

180.000 Bewohnerinnen und Bewohner Londons forderten nach dem Brexit eine Abspaltung Londons. Ob Londons Bürgermeister Sadiq Khan (hier im Gespräch mit EU-Brexitverhandler Michel Barnier) dies jemals in Betracht gezogen hat?
Foto: APA/AFP/POOL/FRANCOIS LENOIR

Die jährlichen Rankings der lebenswertesten, saubersten oder coolsten Städte der Welt tragen ihr Übriges zum Boom des Citytourismus bei. Und Medien erkoren bestimmte Städte immer wieder zu Vorbildern aus. Wiens öffentliches Verkehrsangebot etwa, Kopenhagens Einsatz für verbesserte Radinfrastruktur oder Londons Multikulturalismus. Die Städte wissen sich zu vermarkten, Medien und Medienkonsumenten nehmen es wohlwollend auf und schrauben so die subjektive Bedeutung von Städten immer weiter nach oben, während die Digitalisierung ganzer Branchen die Wichtigkeit der Ballungszentren auch objektiv unterstreicht.

Direktdemokratisch und mächtig

Einer der einflussreichsten Geopolitiker unserer Zeit, Parag Khanna, formulierte es einst so: "Eine Stadt kann sogar in einem scheiternden Staat erfolgreich sein, aber es kann keinen zukunftsfähigen Staat ohne eine prosperierende Stadt geben." Für Khanna sind Städte die logischen Machtzentren der Zukunft. Sie hätten ohnehin schon jede Welle der Globalisierung ausgelöst und werden darüber hinaus auch in Zukunft am besten das bieten können, was langfristig den Machterhalt sichert: demokratische Legitimation.

Die technologischen Möglichkeiten würden in Städten deutlich intensivere Formen von Demokratie erlauben. Die Idee der griechischen Stadtstaaten, der Polis lebt so auf. Die Legitimation könne durch verschiedene Möglichkeiten partizipativer Mitbestimmung gestärkt werden. Tempo 30 in der ganzen Stadt? Bedingungsloses Grundeinkommen für alle? Schnelles Gratis-Internet? Wenn es die Menschen wollen, könnte das schnell per Onlinereferendum abgesegnet werden. Und Schlagzeilen aus aller Welt wären gewiss, das Stadtoberhaupt erneut ein globaler Vorreiter.

Mit solch einer Legitimation im Rücken, die sich nicht nur über eine Wahl alle paar Jahre einmal definiert, könnten die Bürgermeisterinnen und Bürgermeister der Zukunft auf dem internationalen Parkett noch selbstbewusster auftreten und ihre Staatschefs zu einer progressiveren Politik antreiben.

In den Foren der Städtechefs könnten viele der wirklich entscheidenden Fragen für einen großen Teil der Weltbevölkerung getroffen werden. Gut möglich, dass Medien dann wieder nach geeigneten Bildern suchen, um diese Gespräche und Kooperationen zu bebildern, und dabei auf verschiedene Stadtflaggen zurückgreifen. (Fabian Sommavilla, 3.6.2021)