Das Tourbillon (links oben), französisch für Wirbelwind, zählt in der Uhrmacherei zu den höchsten der Gefühle.

Foto: Breguet

Gefängnis? Gar die Guillotine? Abraham-Louis Breguet fürchtet um sein Leben. Hals über Kopf muss der angesehene Uhrmacher Paris verlassen: In den Augusttagen des Jahres 1793 droht ihn das Chaos der Französischen Revolution zu erfassen.

Viele seiner Kunden aus dem Pariser Adel sollte ein grausames Schicksal ereilen – allen voran Marie Antoinette, Gattin Ludwigs XVI. Ihr hatte Breguet noch einen seiner hochfeinen, technisch fortschrittlichen Zeitmesser ins Gefängnis nachschicken lassen. Sie konnte sich nicht lange daran erfreuen: Im Oktober 1793 wird die Monarchin hingerichtet.

Die Uhrenmarke Breguet, zur Swatch Group gehörend, hält das Erbe aufrecht: Das Werk Classique Doppeltourbillon Quai de l’Horloge aus dem Jahr 2020 dreht sich in zwölf Stunden um die eigene Achse. Es wird von zwei, voneinander unabhängigen Tourbillons angetrieben, die sich wiederum einmal pro Minute um die eigene Achse drehen. Die beiden Regulierorgane sind miteinander verbunden und vollführen so eine doppelte Umdrehung.
Foto: Breguet

Für Breguet aber geht es über Umwege zurück an den Ort, wo er 1747 geboren wurde, Neuchâtel in der Westschweiz. Von dort war er nach Paris ausgezogen, um die Welt der Haute Horlogerie zu verändern und sich mit seinen Kreationen und technischen Errungenschaften auf dem Gebiet der Uhrmacherei einen Namen zu machen.

Die Schwerkraft austricksen

Kein Wunder bei diesen Influencern: Seine sogenannten "perpétuelles" mit Automatikaufzug begeistern zunächst das französische Herrscherpaar und schließlich den gesamten Hof in Versailles. Zahlreiche technische Neuerungen und sein Gespür für minimalistisch-edles Design machen aus Breguet einen Erfinder von internationalem Renommee. Er wurde zur Marke, bevor es diesen Begriff im heutigen Sinn überhaupt gab. Eine, die bis heute einen guten Klang hat.

Die GMT Quadruple Tourbillon von Greubel Forsey: Ziel der Erfindung war, die durch die Erdanziehungskraft erzeugte Gangabweichung in allen Positionen auszugleichen, die eine Armbanduhr einnehmen kann, insbesondere in stabilisierter Lage. Um dies zu erreichen, wurde das ursprüngliche Tourbillon zunächst um 30 Grad geneigt, dann verdoppelt und schließlich vervierfacht. Das Ergebnis besteht aus zwei doppelten, synchronisierten Tourbillons, deren erster, um 30 Grad geneigter Käfig sich einmal pro Minute dreht und in einem zweiten Käfig befindet, der in vier Minuten eine Umdrehung vollführt.
Foto: Greubel Forsey

Wahrscheinlich kam ihm im Schweizer Exil die Idee zu einer seiner bemerkenswertesten Erfindungen. Nun hatte er ja Zeit. Werkzeug und Werkstatt waren perdu, Aufträge nicht in Sicht. Also dachte er über ein Problem nach, das ihn schon lange beschäftigte: Wie kann man der Schwerkraft ein Schnippchen schlagen? Diese hat, so seine Beobachtung, eine negative Auswirkung auf die Ganggenauigkeit der damals üblichen Taschenuhren. Aufrecht in der Westen- oder Hosentasche getragen, schwang deren Unruh unter dem Einfluss der Schwerkraft ungleichmäßig.

Gravitationseinfluss neutralisiert

Der Präzision verpflichtet, war ihm diese Tatsache ein Dorn im Auge. Da er es aber nicht mit der Schwerkraft aufnehmen konnte, entschied sich Breguet dafür, wenigstens ihre Folgen zu "zähmen". Er sorgte für einen "Ausgleich" der Beeinträchtigungen durch die physikalischen Gesetze, welche die zentralen Organe der Uhr verformen und damit die Ganggenauigkeit verschlechtern.

Er ließ – vereinfacht gesagt – die Hemmung, bis heute das Herz einer jeden mechanischen Uhr, in einem kleinen Käfig rotieren. Dadurch befindet sie sich immer in einer anderen Lage, der Einfluss der Gravitation wird so neutralisiert. Das "Tourbillon", französisch für Wirbelwind, war geboren.

Unterdessen: gute Nachrichten aus Paris. Die Terrorherrschaft Robespierres ist vorbei. 1795 kehrt Breguet nach Frankreich zurück und nimmt seine Arbeit wieder auf, knüpft an alte Erfolge an. Napoleon wird sein Fan, ebenso dessen Widersacher Wellington. Am "7. Messidor des Jahres IX", wie der 26. Juni 1801 im postrevolutionären Kalender hieß, bekommt Breguet das Patent auf seine Erfindung.

Fragiler Mechanismus

Es ist ein komplexer und fragiler Mechanismus, dessen hypnotisierende Bewegungen Laien unverständlich bleiben und Uhrenfans faszinieren. Breguet selbst sah in diesem Mechanismus mit dem Regulierorgan der Spiralfeder und dem Verteilerorgan in Form von Hemmungsrad und Anker, die sich in einem beweglichen Käfig mit der Regelmäßigkeit von Planeten drehen, eine wohlgeordnete Miniaturwelt.

Das Tourbillon im Mittelpunkt: Grand Central Tourbillon von Franck Muller
Foto: Franck Muller

Eine, die sehr schwierig zu erschaffen war und ist. Ein Tourbillon besteht aus etwa 80 Einzelteilen, die in Summe gerade einmal ein Viertelgramm wiegen. Man kann sich vorstellen, wie viel Fingerspitzengefühl man für den Zusammenbau braucht.

So entstanden bis weit ins 20. Jahrhundert hinein nur wenige Uhren mit dieser Vorrichtung und kaum noch eine, nachdem sich die Armbanduhr durchgesetzt hatte. Notabene: Es war Abraham-Louis Breguet, der den ersten dieser neuartigen am Handgelenk zu tragenden Zeitmesser auslieferte – an die Königin von Neapel. Die Armbanduhr machte das Tourbillon obsolet. Schon weil die Uhr am Handgelenk mehr bewegt wird und dadurch weniger Lagefehler auftreten – theoretisch.

Wieder im Rampenlicht

Mit der Renaissance der mechanischen Uhrmacherei in den 1980er-Jahren trat das Tourbillon aber wieder ins Rampenlicht. Es ist nun das außergewöhnliche, über jeden theoretischen Zweifel erhabene Schauspiel, das zählt. Das allerdings nur einer limitierten, gut betuchten Klientel vorbehalten war (und ist).

2020 jährte sich eine der anspruchsvollsten Erfindungen der hohen Uhrmacherkunst zum 100. Mal: die Konstruktion des Fliegenden Tourbillons durch den Glashütter Meisteruhrmacher Alfred Helwig. Ihm zu Ehren präsentierte Glashütte Original das Alfred Helwig Tourbillon 1920 – Limitierte Edition. Versteckt ist das Fliegende Tourbillon dezent auf der Rückseite der Uhr.
Foto: Glashütte Original

Da jedes Stück in Handarbeit entsteht, war an eine größere Verbreitung auch gar nicht zu denken. Für diese These spricht auch die Tatsache, schreibt der Uhrenexperte Gisbert Brunner, dass es bis 1986, als Audemars Piguet das weltweit erste Serien-Minutentourbillon fürs Handgelenk vorstellte, nur 500 Tourbillonwerke gab.

Mittlerweile kann jedoch keine renommierte Marke auf ein Tourbillon in ihrer Kollektion verzichten. Es gilt als Ausdruck uhrmacherischer Kompetenz.

Komplex und kompliziert

Breguets Wirbelwind wurde und wird von ehrgeizigen Uhrmachern aufgegriffen und verbessert. Schon 1920 entwickelte Alfred Helwig in Glashütte das "Fliegende Tourbillon". Nur auf einer Seite gelagert, scheint es sich frei im Raum zu bewegen. Es lebt in speziellen Modellen der Manufaktur Glashütte Original weiter, die wie die Marke Breguet, zur Swatch Group gehört. Jaeger-LeCoultre ersann das Gyro-Tourbillon: Hier dreht eine komplizierte Mechanik die Unruh laufend um drei Achsen.

Das Gyrotourbillon von Jaeger-LeCoultre in Wort und Bild
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Auch jüngere Marken greifen das Erbe auf. Hublot zum Beispiel oder Bulgari mit der Integration eines Tourbillons in das weltweit flachste Automatikwerk, Roger Dubuis oder Greubel Forsey, deren schräggestellte Doppel- und Vierfach-Tourbillons zum Markenzeichen wurden. Deren Zeitmesser können schon einmal eine Million Euro kosten.

Abraham-Louis Breguet jedenfalls dürfte nicht schlecht staunen, was seine geistesverwandten Erben aus seiner Erfindung gemacht haben. Vermutlich würde es ihn sehr freuen. Er selbst hörte bis an sein Lebensende 1823 nicht auf weiterzutüfteln.

Er baute unter anderem Taschenuhren, die sich selbst aufziehen, oder eine Stoßdämpfung, durch die die Zeitmesser weiterlaufen, selbst wenn sie zu Boden fallen. Auch auf diese Weise hat er den negativen Folgen der Schwerkraft ein Schnippchen geschlagen. Zumindest ein bisschen. (Markus Böhm, RONDO, 25.6.2021)