Die ersten Töne der Ouvertüre von Carmen nach der Siegerehrung beim Grand Prix der Steiermark waren noch gar nicht erklungen, da hatte Max Verstappen bereits sein Opfer auserkoren. Der 23-Jährige rannte auf Helmut Marko zu und verabreichte dem Red-Bull-Motorsportberater eine Schaumweindusche. Genauso konsequent, wie er zuvor den Triumph auf der Rennstrecke in Spielberg geholt hatte. Damit baute er die Führung in der Weltmeisterschaft auf 18 Punkte auf Titelverteidiger Lewis Hamilton aus. Der Niederländer hat heuer erstmals echte Chancen auf den Titel in der Formel 1.

Max Verstappen hat auf die harte Tour gelernt, dass außer dem Sieg nichts zählt. In Spielberg kann er am Sonntag den Triumph von Sonntag wiederholen.
Foto: AFP/TUCAT

Ein Moment, auf den er im Schatten der langjährigen Mercedes-Dominanz lange warten musste. Bereits 2016 adelte ihn Niki Lauda zum "Jahrhunderttalent". Warum? "Bei Max stimmt das ganze Paket", sagt Marko. "Er ist einer von nur ganz wenigen Fahrern, die während des Rennens fast in jeder Situation ansprechbar sind – und zum Beispiel auch in einer Kurve antworten." Dazu kommen der nötige Speed und das Gespür, wann der Gegner nur die kleinste Lücke lässt.

Benzin im Blut

Verstappen hat Benzin im Blut. Mutter, Opa, Onkel – alle waren im Rennsport aktiv. Am weitesten brachte es Papa Jos, nämlich zwischen 1994 und 2003 auf 196 Formel-1-Starts. "Bei uns ging es Tag und Nacht um Motorsport", sagte der 49-Jährige zu Sport1. Max packte das Rennfieber, mit vier Jahren stieg er erstmals ins Kart. Erste Erfolge stellten sich prompt ein. Das Vater-Sohn-Gespann verbrachte fast jedes Wochenende auf Rennstrecken und jährlich bis zu 100.000 Kilometer im Reisebus.

Marko war bald klar, dass da "was Außergewöhnliches" kommt. "Er ist einer der ganz wenigen Fahrer, die in den letzten 15 Jahren den Umstieg vom Gokart in die Formel 3 geschafft haben." Der Grazer nahm den Youngster ins RB-Förderprogramm auf, da hatte dieser noch gar nicht den Führerschein. 2015 wurde Verstappen für das Schwesternteam Toro Rosso mit 17 jüngster Formel-1-Pilot aller Zeiten, im Jahr darauf in Barcelona jüngster Sieger eines Grand Prix – in seinem ersten Rennen für Red Bull Racing.

Der Frühstarter ist wie seine Mutter zwar im belgischen Hasselt geboren, repräsentiert aber wie sein Vater die Niederlande, weil er sich diesem Land mehr verbunden fühle. Gerade in der Anfangszeit in der Königsklasse musste der Heißsporn aber regelmäßig Kritik einstecken. Er sei zu leichtsinnig, zu risikofreudig, gefährde die Konkurrenz. 2018 sorgte er für mehrere Kontroversen. Höhepunkt: Nachdem ihn Esteban Ocon in Brasilien von der Strecke bugsierte und so seinen möglichen Sieg verhindert hatte, geriet er nach dem Rennen mit dem Force-India-Piloten aneinander, schubste ihn mehrmals. Er bekam vom Automobilweltverband Fia Sozialstunden aufgebrummt. Die Medien sahen sich bestätigt und Verstappen als "Mad Max". Ein Ruf, der dem Niederländer im STANDARD-Gespräch 2019 missfiel. "Das bin ich nicht. Ich bin einfach nur Max."

Zweiter als erster Verlierer

"Das bin ich nicht. Ich bin einfach nur Max."
Foto: AFP/SHEMETOV

Für diesen Max bedeutet Erfolg alles. Der Zweite ist der erste Verlierer. Das brachte ihm sein Vater, selbst nur zweimal Dritter bei Formel-1-Rennen, bereits in jungen Jahren bei: "Ich wollte immer nur gewinnen, gewinnen, gewinnen. Das habe ich von ihm auch verlangt", sagt Jos. Gelang dies nicht, wurde hart durchgegriffen. Als sein Sohn 2012 den Kart-WM-Titel mit einem überhasteten Überholmanöver verspielt hatte, setzte er ihn in Italien auf einer Raststation aus und holte ihn erst zehn Minuten später wieder ab. "Das Gefühl vergisst du nicht", sagt der Junior.

Verstappen ist ein Getriebener, vielleicht mit der Raststation im Rückspiegel. Dieser Ehrgeiz hemmte ihn aber bisweilen, machte ihn ein bisschen fehleranfälliger. Oder wie Marko im Mai zum F1-Insider sagte: "Hamilton ist noch abgebrühter. Er kann auf seine Chance warten." Sein Schützling sei dagegen temperamentvoller und ungeduldiger. Der Abstand zu Mercedes sei in den letzten Jahren zu groß gewesen, die WM-Chancen zu weit weg. "Da stürzt man sich auf jede Gelegenheit zu siegen." Etwa 2019 in Spielberg, als er Ferraris Charles Leclerc mit einem waghalsigen Überholmanöver noch den Sieg abluchste. "Man gibt alles und geht über seine Grenzen, um ein besseres Ergebnis zu erzielen, als einem eigentlich zusteht", sagte er dem Red Bulletin. "Wenn man an die Grenze geht, ist auch das Auto immer an der Grenze der eigenen Balance."

Der Grat zwischen Lust und Haltung

Verstappen musste den schmalen Grat zwischen Angriffslust und Zurückhaltung im richtigen Moment erst finden. Er gesteht ein, über die Jahre ruhiger geworden zu sein. Marko hält ihn für gezähmt und dank der aufgemotzten Honda-Motoren für titelfähig. Der WM-Führende sagt: "Jetzt achten wir darauf, dass auch an einem nicht ganz perfekten Wochenende genügend Punkte zusammenkommen – das ist ein ganz anderer Ansatz."

Abgesehen vom Ausfall mit Reifenschaden in Aserbaidschan fuhr der 23-Jährige heuer stets unter den besten zwei ins Ziel. Am Sonntag soll erneut in Spielberg der fünfte Saisonsieg her, für RB Racing wäre es der fünfte in Folge. Letzteres gelang zuletzt 2013, als Sebastian Vettel den Titel holte. Dieses Kunststück will Verstappen mit Mentor Marko wiederholen – inklusive Schaumweindusche. (Andreas Gstaltmeyr, 1.7.2021)