Alexander Bogner: "Die Wissenschaft kann vieles, aber sie kann letztlich der Politik nicht die Entscheidung abnehmen. Eine Politik, die sich der Macht des Wissens oder der Herrschaft der Algorithmen unterwirft, macht sich überflüssig."

Heribert Corn

Am Dienstag dankte die Bundesregierung in einem Festakt den Expertinnen und Experten aus der Wissenschaft für ihre Beiträge zur Bewältigung der Corona-Krise. Die Rolle der Wissenschaft in Pandemien war auch das Thema eines internationalen Essaywettbewerbs, den die Österreichische Akademie der Wissenschaften ausschrieb. Unter den 114 Einsendungen aus 27 Ländern setzte sich der Soziologe und Technikfolgenforscher Alexander Bogner mit seinem Text durch, der zudem die Grenzen der Wissenschaft in Krisensituationen beleuchtet. Vor den mögliche Gefahren einer Herrschaft des Expertenwissens warnt auch Bogners neues Buch "Die Epistemisierung des Politischen", das vor wenigen Wochen erschien.

Standard: Sie haben Ihren preisgekrönten Essay am 22. Dezember 2020 eingereicht, tags zuvor ist in den USA der erste Impfstoff gegen Corona zugelassen worden. Für viele Fachleute – und auch für den Kanzler in seiner Rede am Dienstag – war das nicht nur die größte wissenschaftliche Leistung in der Pandemie, sondern überhaupt eine der bemerkenswertesten in der Wissenschaftsgeschichte. Wie sehen Sie das aus der Warte des kritischen Wissenschaftssoziologen?

Bogner: Ähnlich. Man muss sich das einmal vorstellen: Schon im Jänner 2020, fünf Tage nach der Sequenzierung des Coronavirus, lag an den US-amerikanischen National Institutes of Health der erste Impfstoff vor, am Computer entworfen. Bis zur ersten Impfung dauerte es dann nicht einmal ein Jahr. Zum Vergleich: Vor 100 Jahren wütete die Spanische Grippe in drei Wellen und forderte wohl rund 50 Millionen Tote. Bis zum ersten Impfstoff dauerte es fast 25 Jahre. Angesichts dieser Zahlen ist die gegenwärtige Euphorie über die Biotechnik kein Wunder. Da lassen uns auch die Mondlandung oder der Mars-Rover kalt.

Standard: Kommen wir zurück nach Österreich. Wie beurteilen Sie in einer Zwischenbilanz die Interaktionen zwischen den hiesigen wissenschaftlichen Fachleuten und der Politik in Sachen Corona?

Bogner: In der Pandemie wurde die Politikberatung selbst zum Politikum. Bemängelt wurde einiges, zum Beispiel dass intransparent blieb, wer im Vorfeld wichtiger Entscheidungen als Experte oder Expertin geladen wurde. Oder welche Stellungnahmen aus der Wissenschaft in welcher Form in die politischen Überlegungen eingeflossen sind. Manchmal schien es, als würde die Politik nur jene Stimmen berücksichtigen, die zu ihren vorgefassten Zielen passten.

Standard: Und was sagen Sie zur disziplinären Zusammensetzung der Experten, auf die gehört wurde?

Bogner: Zu Beginn der Krise richtete sich der hilfesuchende Blick der Politik praktisch ausschließlich auf Virologie und Epidemiologie. Die maßgeblichen Statements, Interviews und Podcasts kamen von den Virologen, die von den Medien manchmal fast schon als Popstars gehandelt wurden. Bald wurde jedoch deutlich, dass uns die Corona-Pandemie vor schwierige Abwägungsfragen stellt, die sich nicht allein durch virologische Expertise bewältigen lassen. Wenn in der öffentlichen Debatte auch Fragen der psychosozialen Belastung, der sozialen Ungleichheit oder auch von Bildungschancen eine wichtige Rolle spielen, werden automatisch auch die Sozialwissenschaften gehört. Was längst schmerzlich vermisst wird, das ist ein interdisziplinär besetzter Pandemierat.

Standard: Wer sollte darin Ihrer Meinung nach vertreten sein?

Bogner: In diesem Rat wären neben Medizin, Virologie und Komplexitätsforschung auch die Geistes- und Sozialwissenschaften von Belang, etwa Ökonomie, Psychologie und Soziologie oder auch die Bildungsforschung, die Technikfolgenabschätzung und die Ethik. Und über die Wissenschaft hinaus sollten natürlich auch die Stimmen der Kulturschaffenden, der Kirchen und der Bürgerinnen und Bürger gehört werden. Schließlich geht es bei der Entwicklung einer politischen Strategie nicht um die eine "wissenschaftlich richtige" Lösung, sondern letztlich um Interessenabwägungen und Wertentscheidungen.

Standard: Sie sind auch Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Soziologie. Wie gut haben sich die Sozialwissenschaften in der Pandemie bewährt?

Bogner: Die Sozialwissenschaften haben sehr schnell reagiert. Schon nach kurzer Zeit ließ die Soziologie mit Buchtiteln wie "Die Corona-Gesellschaft" oder "Jenseits von Corona" aufhorchen. Dabei kam es zu weitreichenden, manchmal etwas überhasteten Krisendiagnosen: Da war von einer "Refeudalisierung der Geschlechterverhältnisse" angesichts von Homeoffice und Home-Schooling die Rede, vom Ende des Neoliberalismus oder auch vom Ende funktionaler Differenzierung, weil alle Gesellschaftssysteme ausschließlich auf Gesundheitsschutz programmiert worden seien. Neben diesen Krisendiagnosen wurden im letzten Jahr auch sehr schnell wichtige Forschungsprojekte angeschoben, die eine differenzierte Sicht auf die Krise erlauben.

Standard: Welche Beispiele fallen Ihnen diesbezüglich ein?

Bogner: Einige dieser Projekte sind an der Universität Wien angesiedelt. Die Soziologin Ulrike Zartler beispielsweise befasste sich in einer qualitativen Längsschnittstudie mit den Auswirkungen der Krise auf Eltern und Familien in Österreich. Es gibt außerdem eine methodisch sehr aufwendige Panel-Umfrage zur Corona-Krise, an der Fachleute aus Soziologie, Politologie und Kommunikationswissenschaften beteiligt sind. Die Politologin Katharina Paul hat gerade ein großes Projekt zum gesellschaftlichen Stellenwert von Impfungen in Angriff genommen. Das sind aber nur einige Beispiele.

Standard: Die ÖAW-Preisfrage umgedreht gestellt: Was kann die Wissenschaft in so einem Krisenfall wie der Pandemie nicht leisten?

Bogner: Die Wissenschaft kann vieles, aber sie kann letztlich der Politik nicht die Entscheidung abnehmen. Eine Politik, die sich der Macht des Wissens oder der Herrschaft der Algorithmen unterwirft, macht sich überflüssig. Oder anders gesagt: Im Zuge einer Politik, die sich über Wissen und Wahrheit legitimiert, würde die Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger nur als Ballast erscheinen. Das wäre das Ende einer Demokratie, wie wir sie kennen.

Standard: Eine der Hauptthesen Ihres neuen Buchs ist, dass viele politische Streitfragen gerade auch im Zusammenhang mit der Pandemie oder auch der Klimakrise zu wissenschaftlichen Streitfragen werden. Wie wirkt sich das aus?

Bogner: In vielen politischen Streitfragen ist wissenschaftliche Expertise Trumpf – zum Beispiel, wenn es um den Einsatz von Pestiziden in der Landwirtschaft geht, um die Risiken der Gentechnik, um Grenzwerte der Feinstaubbelastung oder um die Gefahren elektromagnetischer Felder. Der Streit konzentriert sich dann primär auf Wissensfragen: Wie hoch ist das Risiko? Welche Gefahren bestehen für Mensch und Umwelt? Wo liegen die "Kipppunkte" des Systems? In diesen Wissenskonflikten droht die Vernachlässigung von grundsätzlichen Wertfragen. Doch diese Wertfragen – zum Beispiel: Welche Zukunft wollen wir? Welche Einschränkungen sind akzeptabel? Was ist uns die Freiheit wert? – sind ja letztlich der Motor der Konflikte und dürfen daher nicht vernachlässigt werden.

Standard: Es sind im Laufe der Pandemie immer wieder Fachleute mit mehr oder weniger evidenzbasierten Alternativmeinungen aufgetreten. Hätte man diesen abweichenden Ansichten in der Medienöffentlichkeit mehr Aufmerksamkeit schenken sollen?

Bogner: Natürlich muss man Alternativmeinungen Gehör schenken, gerade wenn sie wissenschaftlich seriös sind. Es wäre vermessen, in einer Krisensituation, in der mangels Evidenz oft unter Unsicherheit entschieden werden muss, bestimmte Positionen von vornherein auszuschließen. In der Wissenschaft gibt es jede Menge Streit und Widerspruch, auch unter den Fachleuten aus der Virologie. Mittlerweile haben sich zwei große Expertenallianzen herausgebildet: Die eine Position dringt darauf, die Fallzahlen radikal zu senken und letztlich das Virus zu eliminieren. Die Gegenposition hält diese Null- oder No-Covid-Strategie für eine Illusion und fordert, dass man in Europa auf Dauer mit dem Virus leben müsse. Dieser Expertendissens macht vor allem deutlich, dass letztlich die Politik entscheiden muss. Aber das ist eigentlich eine gute Nachricht.

Standard: Im Hinblick auf die Klimakrise, die im Gegensatz zur Pandemie nicht so bald vorbei sein wird, verlangt die Aktivistin Greta Thunberg "Follow the Science". Was können Sie der Parole abgewinnen?

Bogner: Zunächst einmal ist daran nichts falsch. "Follow the Science" – wem sollte die Politik in einer akuten Krisensituation denn sonst folgen? Ohne die Wissenschaft könnten wir die Gefahren der Pandemie oder der Klimakrise gar nicht erkennen und erklären, geschweige denn wirkungsvoll behandeln. Wohin eine wissenschaftsfeindliche Politik in der Corona-Krise führt, haben wir in Brasilien, Russland oder in den USA unter Trump gesehen. Man darf bei aller Begeisterung für die Wissenschaft allerdings auch nicht den Fehler machen, Politik auf Wissenschaft reduzieren zu wollen. Auch das haben wir in der Pandemie erlebt.

Standard: Woran denken Sie da im Besonderen?

Bogner: Als im April die dritte Corona-Welle drohte, forderten viele, die Politik solle jetzt endlich konsequent der Wissenschaft folgen, und das heißt natürlich: Politik soll auf langwierige Abwägungsprozesse verzichten. Eben: "Follow the Science". Aber das ist das Problem an dieser Parole. Sie unterstellt, dass es auf politische Streitfragen – wie zum Beispiel: "Brauchen wir härtere Maßnahmen?" – wissenschaftlich richtige, also quasi wert- und ideologiefreie Antworten gibt. Doch alle noch so exakten Zahlen, Daten und Prognosen – darauf hat schon der Soziologe Max Weber hingewiesen – können uns die Entscheidung nicht abnehmen. Im wissenschaftlichen Faktum steckt kein politisches Handlungsprogramm. Also: Die Politik soll der Wissenschaft folgen – aber sie soll sich ihr nicht unterwerfen. (Klaus Taschwer, 7.7.2021)