Dort, wo die beschaulichen Gemeinden Ludesch und Nüziders aufeinandertreffen, ist die internationale Getränkeindustrie angesiedelt.

Foto: Heribert CORN

Schon wieder ist es geschehen. "Des gibt's doch net", seufzt die Sozialarbeiterin Elisabeth Gambs. Ein paar Fetzen rot-weißer Absperrbänder hängen noch seitlich an der Spanplatte. Auch ein paar folierte A4-Blätter fehlen. Auf diesen informierte die "Initiative Ludesch" die vorbeispazierenden Menschen über die dahinter liegenden Wiesen, die sich Rauch Fruchtsäfte gern einverleiben würde. Vielleicht ein Jugendstreich? "Nein", sind Gambs und Christoph Aigner von der Bürgerinitiative überzeugt. Sie vermuten dahinter eine absichtliche Aktion ihrer Kritiker.

Hinter dem beschädigten "Info-Point" der Bürgerinitiative erstrecken sich weite Wiesen und Ackerfelder. Auf einem Feld wuchsen vor zwei Jahren Erdäpfel. Fünfzig Meter weiter hinten schimmert ein goldfarbenes Dinkelfeld; daneben schlagen sich Sellerie, Karotten und Zwiebeln durch die Erde. "Sollen die im Ludescher Neugut liegenden Grundstücke [...] Freifläche-Landwirtschaft bleiben?" lautete die Frage, die man der Bevölkerung im Rahmen einer Volksabstimmung 2019 stellte.

Am Vorarlberger Standort wird etwa die Hälfte der jährlich 6,7 Milliarden Red-Bull-Dosen hergestellt.
Foto: Heribert CORN

Wunsch nach Expansion

Dass in der 3.600-Einwohner-Gemeinde Ludesch im Herzen des Vorarlberger Walgau Informationsstände verwüstet werden, hängt mit einem umstrittenen Projekt zusammen: Neben den großen Wiesen an der Gemeindegrenze zu Nüziders produzieren Rauch Fruchtsäfte, der US-Dosenproduzent Ball und Red Bull gemeinsam den gleichnamigen Energydrink. Etwa 700 Mitarbeiter sind in den Betrieben beschäftigt. Seit 32 Jahren füllt Rauch die mittlerweile 6,7 Milliarden jährlich produzierten Red-Bull-Dosen ab, am Standort im Walgau und im schweizerischen Widnau.

Die geplante Erweiterung des Geländes am Red-Bull-Produktionsstandort Ludesch-Nüziders.
Grafik: STANDARD/Oana Rotariu, Basiskarte: Land Vorarlberg

Weil der weltweite Durst nach Red Bull die Betriebe an ihre Kapazitätsgrenzen brachte, trugen diese schon vor Jahren ihren Erweiterungswunsch an Ludesch heran. 6,5 Hektar, umgerechnet neun Fußballfelder, Grün- und Ackerflächen müssten dafür einer Produktionsanlage und einem Lager für Red-Bull-Dosen weichen. Der damalige Bürgermeister stand dem Ausbau positiv gegenüber, immerhin würde die Erweiterung 100 neue Arbeitsplätze schaffen und benötigtes Geld in die Kommunalkasse spülen. Es hätte eine von vielen Betriebserweiterungen werden können, die ohne großes Getöse über die Bühne gegangen wäre.

Bürgerinitiative stellte sich quer

Christoph Aigner und Elisabeth Gambs von der Initiative Ludesch setzen sich für den Erhalt der Landwirtschaftsflächen ein.
Heribert CORN

Wäre nicht die Initiative Ludesch reingegrätscht: "Die meisten Menschen im Dorf wussten nicht, was Rauch da vorhatte", sagt Christoph Aigner, einer der Mitbegründer der Initiative. Mit Rundschreiben wollten sie diesem Umstand entgegenwirken. Und das schafften sie: Plötzlich wurde der Wasserverbrauch von Rauch Fruchtsäfte Thema. Rauch bezieht das Wasser aus dem darunter liegenden Grundwassersee, dem größten Vorarlbergs. Gratis, denn dies entspricht dem Wassergesetz von 1959 (siehe Infokasten unten).

Vor allem aber wurde der Flächenverbrauch breit diskutiert. Gerade in einer Zeit, in der österreichweit immer noch täglich 13 Hektar Boden und somit Landwirtschaftsfläche, Erholungsraum und CO2-Speicher verlorengehen, gelte es, diesen zu schützen. "Wie sollen wir unseren Enkeln erklären, dass wir so sorglos mit Boden umgegangen sind?", fragt Elisabeth Gambs von der Initiative.

Versiegelte Fläche, Flächeninanspruchnahme (Verbauung für Bau- und Verkehrszwecke, Freizeitzwecke oder Abbauflächen) in Österreich im Vergleich. Weil Fläche in Bundesländern wie Vorarlberg begrenzt ist, schuf man die Landesgrünzone – zum Schutz vor ausufernder Verbauung. Daten: Umweltbundesamt
Grafik: STANDARD/Oana Rotariu

Das haben sich auch schon Raumplanungspioniere in den 1970er-Jahren gefragt: Sie schufen die Landesgrünzone, eine Landesverordnung, die 136 Quadratkilometer lose zusammenhängende Freifläche vom Bodensee bis in den Walgau vor Bebauung schützt. Für Erweiterungen wurde sie aber in den vergangenen Jahren zusehends angeknabbert. Auch das Ludescher Neugut befindet sich in dieser Grünzone. Was allerdings dazukommt: Es ist auch im Räumlichen Entwicklungskonzept (REK) als potenzielles Betriebsgebiet ausgewiesen, mit 16 Hektar. Der Verdacht kam auf, dass sich Rauch weitere zehn Hektar einverleiben könnte. Der Getränkeriese hat dies jedoch stets dementiert.

Missglücktes Angebot

Die Initiative Ludesch sammelte also Unterschriften, um eine Volksabstimmung über die Erweiterung herbeizuführen. Abgestimmt wurde dabei auch über Heinrich Schneiders 1,75 Hektar Boden. Er sitzt zwei Tage später im alten Gasthof Adler, der nicht mehr in Betrieb ist. "Hier gab es früher die besten Kässpätzle", sagt er. Die Schank, die eingeschichteten Gläser, der gestandene Geruch nach Essen – vieles erinnert noch an die Zeiten, in denen das ganze Dorf, wie er sagt, bei ihm ein und aus ging.

Den Acker habe er jahrzehntelang selbst mit Silomais bewirtschaftet, "als Kind noch mit Ochs". Nun verpachtet er ihn an eine Gärtnerei, die darauf Gemüse anpflanzt. Ob er denn nicht an diesem Boden hänge? "So hab ich einen Ärger weniger", sagt der 76-Jährige. Nach ihm wolle ohnehin niemand mehr weitermachen. "Die Volksabstimmung kommt einer Enteignung gleich", pflichtet ihm sein Neffe bei. An der Initiative lassen alle an dem Tisch kein gutes Haar. "Sie sind die Verhinderungsallianz", lautet der Tenor.

Drei Tage vor der Volksabstimmung im November 2019 traten drei Herren vor die Presse. Es waren die Geschäftsführer von Rauch, Red Bull und Ball. Fünf Millionen Euro stellten sie, auf zehn Jahre gestaffelt, der Gemeinde für anstehende Projekte in Aussicht – würde die Volksabstimmung zu ihren Gunsten ausfallen.

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Diese Aktion stieß den Ludeschern bitter auf: Mit 56,1 Prozent erteilte die Bevölkerung dem Projekt eine klare Absage.

Der Verlierer war aber nicht nur der Getränkeriese, auch die Grundstücksbesitzer zählten dazu. "Niemand hätte eine Freude, wenn das Dorf plötzlich über dein Grundstück bestimmt", sagt Christoph Schneider, Deutschlehrer und Neffe von Heinrich Schneider. Gemeinsam mit 14 anderen Betroffenen zogen sie vor den Verfassungsgerichtshof, um die Abstimmung anzufechten. Für sie ging es um viel Geld: Ist ihre Fläche einmal umgewidmet, zahlt ihnen Rauch 235 Euro je Quadratmeter, das ist bereits vertraglich zugesichert. In ihrer jetzigen Form gäbe es zwischen zehn und 15 Euro. Der VfGH gab ihnen recht. Mit der Begründung: Nur die gewählten Vertreter in der Gemeinde dürfen Volksabstimmungen anordnen. Alles andere verstoße gegen den Grundsatz der repräsentativen Demokratie.

Ein kommunaler Konflikt erlangte plötzlich nationale Dimension. Das Urteil machte mit einem Schlag das Vorarlberger Initiativrecht verfassungswidrig, dieses muss nun bis Ende 2021 repariert werden. Es brachte Bürger um die Möglichkeit, Volksabstimmungen selbst herbeizuführen. Und brachte die Ludescher Umwidmungspläne zurück an den Start. Seither wird dort heiß diskutiert, was nun mehr zähle: die wirtschaftlichen Interessen einer Gemeinde oder der Bürgerwille.

Der Verfassungsgerichtshof kippte die Volksabstimmung – viele Fragezeichen blieben stehen.
Foto: www.corn.at Heribert CORN

Pattsituation in Ludesch

In diese schwierige Pattsituation schlitterte der neue, parteifreie Bürgermeister Martin Schanung. Und weil er um die Komplexität der Lage wusste, ließ er sich Zeit. "Ich möchte mir ein Bild der Lage machen", hieß es unmittelbar nach der Aufhebung des Volksentscheids. Heute sagt Schanung, dass vor der Abstimmung Falschinformationen verbreitet worden seien. Nicht nur das Getränketrio um Rauch könne seinen Betrieb auf die im REK ausgewiesenen 16 Hektar erweitern, auch andere heimische Betriebe könnten sich im Umland ansiedeln. Er ist sich nicht sicher, ob die Bürger auf Basis dieser "Falschinformation" ihre Stimme abgegeben haben.

Umweltorganisationen, wie etwa der Verein Bodenfreiheit, sehen in der potenziellen Neuansiedlung in der Landesgrünzone allerdings einen "Dammbruch" – bislang war es Usus, diese für Erweiterungen anzuknabbern. Die Einnahmen könnte Ludesch jedenfalls gut gebrauchen, etwa für den Bildungscampus. Mit dem vorhandenen Budget könne man keine "großen Sprünge" machen, "finanziell gesehen stehen wir als Gemeinde aber einigermaßen gut da", hält der Bürgermeister fest.

Ob sich nun andere heimische Betriebe ansiedeln dürfen, macht für eine Ludescherin, die Ende Juli gerade mit ihrem Jungen beim Ludescher Gemeindezentrum aufs Fahrrad steigt, keinen Unterschied: "Ich bin nicht zufrieden, wie die Diskussion zuvor verlaufen ist", sagt sie – sie hatte für die Erweiterung gestimmt, das Teilen in Gut und Böse hätte nur das ganze Dorf gespalten. Anders sieht dies ein Paar vor einer Bäckerei: Ob sich nur Rauch oder auch andere Betriebe ansiedeln, spiele für sie keine Rolle. "Die Bevölkerung hat sich gegen die Erweiterung ausgesprochen", sagt der ehemalige Lkw-Fahrer; es sei undemokratisch, wenn die Gemeinde das Ergebnis nicht anerkennt.

Volksabstimmen über Volksabstimmen

Der lange Kampf der Initiative Ludesch hat sich nun um eine Ebene erweitert – jetzt geht es nicht nur mehr um den Schutz der Landwirtschaftsflächen vor Beton und Verbauung, sondern auch um das direktdemokratische Mitbestimmungsrecht. Und dafür haben sie sich ein ehrgeiziges Ziel gesetzt: "Wenn wir eine Volksabstimmung wie in Ludesch in Zukunft haben wollen, brauchen wir eine Verfassungsänderung", sagt Christoph Aigner. Das Netzwerk "Volksabstimmen für Volksabstimmen", an dem sich Menschen aus 36 Gemeinden beteiligen, möchte nun einen Gesetzesentwurf erarbeiten. Sollte dieser vom Landtag abgelehnt werden, wollen sie mittels Volksbefragung eine österreichweite Diskussion zur Handhabe der direkten Demokratie auslösen. "Aus dem Verlust von diesem demokratischen Recht in Vorarlberg soll eine Chance für alle in Österreich werden", sagt Aigner.

Und im kleinen Ludesch? "Der Ball liegt bei der Gemeinde", sagt Rauch-Geschäftsführer Daniel Wüstner, man warte gespannt auf die Entscheidung. Und weil diese nicht leicht zu treffen ist, hat sich der Bürgermeister einen Externen ins Boot geholt. Manfred Walser, ein deutscher Raumplaner, muss nun Geschehenes aufarbeiten und sich jene Argumente ansehen, die es rechtfertigen könnten, das Ergebnis der Volksabstimmung zu überdenken. Das Wichtigste sei nun, dass die Gemeinde nach der jahrelangen Aufregung wieder Zusammenhalt finde, sagt Walser. Eine neuerliche Volksabstimmung würde dazu keinen Beitrag leisten, aber auch das Ergebnis des ersten Votums dürfe man nicht ignorieren. Kann er eine Lösung finden? (Elisa Tomaselli, Sebastian Kienzl, 1.9.2021)