Im Streit mit Polen wird die EU weiter auf Dialog setzen und eine konsequente Gangart scheuen, schreibt der polnische Journalist Bartosz T. Wielinski in seinem Gastkommentar.

Der schon seit sechs Jahren andauernde Konflikt zwischen Polen und der Europäischen Union hat etwas von einem verrückten Duell zwischen zwei Autofahrern, die mit hoher Geschwindigkeit aufeinander zurasen. Gewinnen wird dieses Spiel derjenige, der länger die Ruhe bewahrt und keine Angst vor einem Frontalzusammenstoß hat. Verlieren wird derjenige, der zuerst ausweicht oder auf die Bremse steigt. Für die Brüsseler Politiker ist diese Art der Konfrontation eine völlig neue Erfahrung. Obwohl sie im Recht sind und einen starken Apparat hinter sich haben, fürchte ich, dass es ihnen in diesem Rechtsstreit mit Polen an Mut und Konsequenz fehlen wird.

Polens heftig umstrittene Justizreform im Blick: EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen.
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Dabei hat die Europäische Union in letzter Zeit sehr mutige Schritte unternommen und bisher auch nicht nachgelassen. Worum geht es konkret: Die nationalkonservative polnische Regierung der Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) zerstört den Rechtsstaat, und die EU will da nicht tatenlos zusehen. Am 20. Juli setzte die Europäische Kommission deshalb einen noch nie dagewesenen Schritt: Sie erließ ein Ultimatum gegen Warschau. Die PiS-Regierung, die seit Herbst 2015 in Polen an der Macht ist, hat nun bis zum 16. August Zeit, dem Urteil des Europäischen Gerichtshof nachzukommen. Dieser verlangt die Einstellung der Arbeit der Disziplinarkammer des Obersten Gerichtshofs.

Diese Disziplinarkammer ist eine von der PiS-Partei geschaffene Einrichtung mit dem Ziel, polnische Richter an die kurze Leine zu nehmen und diejenigen, denen sie ungehorsames (in der Sprache der polnischen Regierenden: unpatriotisches) Agieren vorwirft, aufgrund unhaltbarer Anschuldigungen die Immunität zu entziehen und aus dem Justizapparat zu entfernen.

Nicht unabhängig

Der polnische Justizminister Zbigniew Ziobro versucht damit, die von polnischen Gerichten verhängten Urteile zu beeinflussen. Er schert sich nicht um die Rechtsstaatlichkeit, ein Grundprinzip der EU. Die Disziplinarkammer soll ihm dabei helfen. Diese Einrichtung ist, obwohl sie aufgrund eines von der PiS-Partei geänderten Gesetz nun Teil des Obersten Gerichtshofs ist, kein unabhängiges Gericht. Denn die Zusammensetzung dieser Disziplinarkammer bestimmt die Politik. Der EuGH bestätigte dies in seinem Urteil vom 15. Juli und ordnete deshalb auch die Aussetzung der Kammer an. Die polnische Regierung wollte davon nichts hören und versuchte sogar, den Auftrag des EuGH zu widerrufen. Aus diesem Grund griff die EU-Kommission nun per Ultimatum durch.

Sollte das Disziplinargericht trotzdem auch nach dem 16. August seine Arbeit fortsetzen, muss Polen mit gigantischen Geldstrafen wegen der Missachtung des EuGH-Urteils rechnen. Darüber hinaus ist es sehr wahrscheinlich, dass die Kommission die polnische Wiederaufbauhilfe nicht genehmigen wird, der es Polen ermöglichen würde, um die 170 Milliarden Euro aus dem europäischen Corona-Wiederaufbauplan zu erhalten. Denkbar ist sogar, dass Brüssel die Auszahlung anderer Mittel aus dem EU-Haushalt für Polen einfrieren könnte. Indem sie die Rechtsstaatlichkeit mit Füßen tritt und die unabhängige Justiz zerstört, beweist die PiS-Regierung, dass es in Polen keine unabhängige Institution gibt, die die Verwendung der europäischen Gelder überwachen könnte. Das könnte einen fast kompletten Zahlungsstopp bedeuten. Dies wäre ein schwerer Schlag für die PiS-Partei, die auf EU-Gelder angewiesen ist, um ihre Zustimmung der Wählerinnen und Wähler aufrechtzuerhalten.

Deswegen herrscht in den höchsten Regierungsebenen in Warschau nun Panik. Nur Jarosław Kaczyński, der Vorsitzende der PiS-Partei, bewahrt einen kühlen Kopf. Er befiel seinen Parteifreunden, am bisherigen Kurs festzuhalten. Der PiS-Chef ist überzeugt, dass Brüssel irgendwann der Mut fehlen wird, seine Drohungen wahrzumachen.

Kampf um Werte

Liegt Kaczyński mit seiner Vorhersage richtig? Ich fürchte, ja. Bisher hat die Europäische Union Probleme stets durch Dialog und nicht durch Ultimaten gelöst. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen ist nicht der Typ von Politikerin, die bereit ist, bis aufs Äußerste für die Werte der Europäischen Union zu kämpfen. Vielmehr wird sie alles daran setzen, schnell einen Kompromiss auszuarbeiten, auch wenn er sehr faul ist, und eine Pressemitteilung zu verschicken, in der es heißt, dass alles wieder in Ordnung ist und dass das von der PiS-Partei regierte Polen die EU liebt.

Die PiS-Regierung, die die EU seit sechs Jahren über den Abbau der Demokratie belügt und täuscht, wird dies erneut tun, wenn sie von Brüssel die Gelegenheit dazu erhält.

Schlimmer noch, der Streit um die Disziplinarkammer ist nur eine Facette des seit sechs Jahren andauernden Abbaus der Demokratie in Polen. Die PiS-Partei will nicht nur die Gerichte, sondern auch die unabhängigen Medien unterdrücken. Die Regierung bereitet derzeit die gewaltsame Übernahme des größten privaten Fernsehsenders TVN vor. Im Hintergrund führen PiS-Politiker eine Kampagne gegen die LGBT-Community und planen, die Lehrpläne in den Schulen so zu verändern, dass die Schülerinnen und Schüler zu wahren polnischen Patrioten erzogen werden, die eine Partei und ihre Führer unterstützen. Frauen, die gegen die Einführung eines fast vollständigen Abtreibungsverbots demonstrierten, wurden von der Polizei mit Tränengas und Schlagstöcken attackiert.

Kommissionspräsidentin von der Leyen und die Europäische Kommission sind genau darüber informiert, wie sehr die Grundrechte in Polen seit Jahren abgebaut werden. Ich fürchte jedoch, dass dies nicht ausreicht, um sie endlich auch zum Handeln zu bewegen. (Bartosz T. Wielinski, 4.8.2021)