Wer könnte die hunderttausenden friedlichen Demonstranten in der Hauptstadt Minsk und in anderen Städten von Belarus vergessen, die nach der augenfälligen Fälschung bei den Präsidentschaftswahlen am 9. August 2020 wochenlang trotz brutaler Niederknüppelung der Protestierenden und der Festnahme von über 20.000 Personen auf die Straßen gingen.

Weder die internationale Berichterstattung über die spektakuläre Flucht der weißrussischen Olympiasprinterin Kristina Timanowskaja aus Tokio über Wien nach Warschau und über den mysteriösen Tod des führenden Regimegegners Witali Schischow, der aufgehängt in einem Park von Kiew gefunden wurde, noch die von der EU verhängten Sanktionen können darüber hinwegtäuschen, dass es Langzeitherrscher Alexander Lukaschenko gelungen ist, die Protestwelle zu unterdrücken.

Bild nicht mehr verfügbar.

Der belarussische Machthaber Alexander Lukaschenko.
Foto: REUTERS/Pavel Orlovsky/BELTA

Die nach allen Indizien siegreiche Oppositionskandidatin Swetlana Tichanowskaja ist im litauischen Exil. Der Oppositionsaktivistin Maria Kolesnikowa wird seit Mittwoch im Geheimen der Prozess in Minsk gemacht; ihr drohen bis zu zwölf Jahre Haft. Wer erinnert sich noch an den oppositionellen Blogger Roman Protasewitsch, den Lukaschenko aus einem Linienflug zwischen Athen und Vilnius im Mai nach Minsk holen ließ, um ihn später mit einem reuigen Geständnis vorzuführen. Der seit 27 Jahren amtierende 66-jährige Lukaschenko sitzt wieder fest im Sattel und kann es sich leisten, sogar in den Reihen der belarussischen Opposition in der Ukraine und in Litauen Angst und Schrecken zu verbreiten. Darüber hinaus setzt er die Nachbarländer und die EU durch die Überstellung von Migranten aus dem Irak und Syrien unter Druck als Antwort auf die EU-Sanktionen.

Differenzen

Wie war sein politisches Überleben möglich? Vor allem gelang es Lukaschenko, seine Hauptstütze, die Geheimdienste und die Sondereinheiten der Polizei, vor einem Zerfall zu bewahren und Risse in dem Sicherheitsapparat zu verhindern. Der zweite Hauptgrund für das Ende des Volksaufstandes war die von Anfang an öffentlich bekundete Unterstützung des mächtigen russischen Nachbarn.

Präsident Wladimir Putin hat trotz früherer Differenzen mit Lukaschenko durch mehrere gemeinsame Fernsehauftritte seine Solidarität mit dem zeitweilig wankenden Diktator unmissverständlich sowohl für die belarussische Opposition wie auch für die westlichen Regierungen klargemacht. Lukaschenko gilt heute als der politische Paria Europas. Die Zeit seiner Manövrierfähigkeit zwischen Moskau und Brüssel ist unwiderruflich vorbei. Das Schicksal des Landes hängt vom Willen des Kremls ab. Der theatralische Auftritt des Diktators am Jahrestag der gefälschten Wahl mit den alten Lügen und mit neuen Drohungen gegen den Westen bestätigt, dass von der von der EU geforderten Freilassung der rund 600 politischen Häftlingen keine Rede sein kann.

Der Westen (nicht nur Österreich) ist im Grunde bloß Zuschauer (siehe auch Kolumne Philippe Narval, "Österreichs Abschied von der Welt"). Solange Lukaschenko an der Macht bleibt, gibt es keine Aussicht auf ein baldiges Ende der Diktatur. (Paul Lendvai, 10.8.2021)