Marinella Senatores "Assembly" lockt mit politischen und poetischen Slogans in die Stadt.

Es mag vielleicht widersprüchlich klingen: Direkt vor dem Grazer Hauptbahnhof wird das Publikum mit den Worten "The Way Out" begrüßt. Das diesjährige Motto des Steirischen Herbstes steht in leuchtenden Lettern an der bunten Jahrmarktinstallation von Marinella Senatore, die die Besucher wie ein Tor in die Stadt entlässt. Es gibt kein Zurück: Der Weg hinaus ist auch der Weg hinein.

Um für alle Eventualitäten gerüstet zu sein, hat das Kulturfestival heuer fast alle Veranstaltungen an die frische Luft verlegt (vieles findet auch zusätzlich im Internet statt). Eine Chance, um Orte neu zu erobern – Teilnehmende und Nichtteilnehmende einzubinden und zu durchmischen. So streift Stefanie Sargnagel in ihrem Video-Lagebericht durch die Straßen und sucht ein authentisches Graz – abseits des Steirischen Herbstes. Wenngleich das 1968 gegründete und seit 2018 von Ekaterina Degot geleitete Fest etwas von seiner radikalen Provokation verloren hat, wird man hier immer noch herausgefordert. Nie mit der Keule, viel eher sind die bewussten Störungen filigran, schneiden mit einer feinen Klinge langsam in ihre Umgebung – was ist jetzt noch einmal Kunst und was nicht?

Vorbei an einem Denkmal, das Thomas Hirschhorn der Philosophin Simone Weil gesetzt hat, reisen wir an die erste Station – und essen. Mit dem Projekt Cooking with Mama fördert der aus dem Irak stammende Künstler Hiwa K einen kulturellen Austausch – mit einer Kochshow der anderen Art. Dabei bereiten Menschen mit Migrationshintergrund unter Anleitung ihrer per Video zugeschalteten Verwandten an einem Imbissstand ein typisches Gericht aus ihrer Heimat zu. Am Samstag kochte Pamir südindisches Sambar Masala. Wir essen und lernen, dass Mango-Lassi in Indien kaum verbreitet ist und "Stinkwurz" für blähende Gerichte verwendet wird.

Megafone statt Kreuze

Zwar ist die Reihenfolge verdreht, aber als Nächstes geht es in die Kirche. Also fast, denn diese Liturgie hier hat nichts mit Gottesdienst zu tun: Statt Gebete gibt es Fakten, statt Kreuze Megafone, statt "Halleluja" ein kräftiges "Eartheluja". In einem Innenhof hält die New Yorker Performancegruppe Reverend Billy and the Church of Stop Shopping eine "nötige Intervention" ab. Dabei predigt Billy mit Trump-Frisur und im pinken Anzug von Umweltzerstörung und Konsumzwang. Gesanglich begleitet wird er von seinen fünf Chor-Anhängern (sehr stark!): "Stop shopping" lautet das erste Gebot des Kollektivs, das durch seine provokanten Aktionen bei den Occupy-Wall-Street-Protesten bekannt wurde. Mit dem Slogan "The earth is in pain" geht es dann gemeinsam die Grazer Shoppingmeile entlang. Konsumsüchtige und Umweltschützer aufgepasst: Wer traut sich danach noch zu H&M?

Ebenfalls als Interaktion zwischen Passanten und Performern funktioniert The Invisible Opera der Australierin Sophia Brous, wenngleich das in viel poetischerer Manier geschieht. Von einem Gastgarten aus beobachten wir das Treiben auf dem Mariahilferplatz. Über Kopfhörer spricht die Künstlerin zu uns, kommentiert alles, was es zu erblicken gibt. Als allsehendes Auge schaut sie durch eine Kamera auf das Geschehen und mischt aufgenommene Geräusche mit Musik in Echtzeit. Plötzlich treten ein Mann in Lederhose, ein Yoga-Quartett und ein gigantisches Eichhörnchen auf – und auch die Zuschauer müssen auf die Bühne. Alle sind beobachtete Beobachter.

Bauernkriege, Digitalisierung, Butt-Plugs

Jegliche Grenzen aufzulösen versucht auch eines der Highlights des diesjährigen Festivals: die irre, konfuse und wirklich witzige Ritterperformance Ich spiele, also bin ich! Ein digitaler Bauernkrieg der deutschen Filmemacherin Hito Steyerl und des Tatort-Schauspielers Mark Waschke im Orpheum. Sein manischer Monolog wird von Computerspielvideomontagen Steyerls ergänzt, die an einem Regietisch sitzt – wobei nie ganz klar ist, wer hier wen anleitet. Obwohl es zugleich um deutschsprachiges Theater, Bauernkriege, Digitalisierung, gendergerechte Sprache, Butt-Plugs und René Descartes geht, ergibt das alles mehr oder weniger Sinn. Was am Ende wahr ist und was frei erfunden, ist egal. Realität und Spiel sind eng miteinander verschlungen. (Katharina Rustler, 19.9.2021)