Die Tatortgruppe Ende April in der Brigittenau.

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Etwa 3,4 Promille Alkohol, den Aufputscher Ephedrin, das Beruhigungsmittel Benzodiazepin und Gras. All das hat der sogenannte "Bierwirt" im Blut, als er am 29. April 2021 ins Krankenhaus gebracht wird. Zuvor soll Albert L., wie der 43-Jährige bürgerlich heißt, Marija M. in ihrer Wohnung im Winarskyhof im 20. Bezirk erschossen haben – sie war seine langjährige Freundin. Nach der mutmaßlichen Tat setzte sich L. auf eine Parkbank im Hof des Gemeindebaus, zog sein Oberteil aus und trank Wodka und Bacardi. Der Bierwirt war bewusstlos, als ihn die Polizei schließlich abtransportierte.

Im Zuge der Ermittlungen gab die Staatsanwaltschaft ein Gutachten in Auftrag. Dieses sollte aufklären, ob L. zum Zeitpunkt der Tat zurechnungsfähig war oder nicht. Jene 150 Seiten liegen dem STANDARD in voller Länge vor. Das Ergebnis fällt eindeutig aus: Bei Albert L. konnten keine Geisteskrankheit, keine relevante intellektuelle Minderbegabung und keine tiefgreifende Bewusstseinsstörung festgestellt werden. Das sind allesamt Kriterien, die eine Einschätzung der Tat durch L. psychisch beeinträchtigt hätten. Laut dem Resümee des Gutachters sei auch eine "volle Berauschung" zum Tatzeitpunkt nicht nachvollziehbar. Das "Steuerungsvermögen" des Bierwirts sei zwar möglicherweise vermindert, "jedoch nicht aufgehoben" gewesen.

Keine Erinnerung

Der Bierwirt rechtfertigte sich laut Gutachten mit "einer über mehrere Stunden dauernden Amnesie". Doch anhand von Dokumenten und Zeugenaussagen wird diese Version ziemlich zerpflückt: "Daraus geht klar hervor, dass der Beschuldigte den Weg zum Tatort fand, die Waffe bei sich trug und die gezielten Schüsse abgab."

Generell geben die Zeugenaussagen, auch die sind in dem Gutachten angeführt, Aufschluss über vieles, das vor der Tat passiert war. Für die Eltern des Opfers war die Beziehung aber immer schon schwierig, eine klassische On-Off-Beziehung sei es gewesen, jeder hatte seine eigene Wohnung, Marija habe oft Angst gehabt vor L. Der habe zwar schon jahrelang getrunken, richtig schlimm sei es aber in den Wochen vor der Tat geworden: L. verlor den Prozess gegen die Grünen-Politikerin Sigrid Maurer. "Er brach psychisch zusammen, war total unverlässlich und lieferte einen Alkoholexzess nach dem anderen", sagt seine Schwester zur Polizei.

Zum letzten Mal trennte sich Marija sechs Tage vor ihrem Tod. L. soll damals in ihre Wohnung im 20. Bezirk gekommen sein, zu dem Zeitpunkt hielten sich dort seine Kinder und deren Großeltern auf. Er sei in Rage gewesen, habe Schubladen ausgeleert und sein Handy gesucht, sagt Marijas Vater in der Einvernahme. Im Zimmer seiner Tochter habe L. ihr einen Pfefferspray gezeigt und diesen auch benutzt. Die 13-Jährige erschrak, lief zu ihrer Oma, wie sie den Ermittlern erzählt. Die Situation eskalierte: L. soll eine Waffe gezogen und in Richtung des Großvaters geschossen haben, die Kugel hinterließ ein Loch neben der Eingangstüre. "Die Kleine stand neben ihm und weinte", sagte der Vater von Marija M. der Polizei. Zur Anzeige brachte den Vorfall niemand. "Ich wollte keine Polizei rufen, da ich große Angst hatte, dass es eskalieren könnte und L. meiner Familie etwas antun oder sogar jemanden töten könnte." Genau diese Befürchtung trat sechs Tage später ein.

Rekonstruierter Tathergang

Auch den Tathergang rekonstruierten die Ermittler mithilfe von Zeugenaussagen. Denn in der Wohnung war nicht nur Marija M., die gerade Kaffee kochte, und ihr dreijähriger Sohn, der in der Badewanne war. Ein Nachbar und dessen Tochter saßen ebenfalls in der Küche. "Plötzlich hörten wir Marijas Tochter, die im Hof war, schreien: 'Mama, der Papa ist da!'", sagte der Nachbarn den Ermittlern. Dann sei alles schnell gegangen. L. habe seiner langjährigen Partnerin zunächst ins Bein geschossen und ihn angewiesen, mit den Kindern aus der Wohnung zu verschwinden, sagte der Zeuge. Er sei ins Badezimmer gerannt, um den Dreijährigen zu holen, als der zweite Schuss fiel. "Die Marija ist tot. Adoptiere meine Kinder. In 20 Jahren komm ich raus, und dann will ich sie wiedersehen", soll L. dann noch gesagt haben. Der Nachbar und die Kinder rannten in seine Wohnung, er rief die Polizei.

In die Wohnung gelassen habe ihn seine Tochter, wie sie selber den Ermittlern sagte. "Er hat gesagt: 'Ich hab dich lieb, aber bitte sperr jetzt die Tür auf'". Etwa 30 Sekunden lang habe sie ihn gebeten zu gehen, vergeblich. "Es gab ja schon einen Vorfall mit der Waffe, ich wusste also, dass er bewaffnet war, deshalb habe ich aufgesperrt und noch geschrien: 'Mama, Papa ist da!'", so die 13-Jährige in ihrer Einvernahme. Sie wisse, dass ihr Vater ihre Mutter öfter geschlagen habe. Sie habe außerdem erfahren, dass er sie manchmal mit einer Waffe bedroht habe.

Die Angst seit der Trennung muss groß gewesen sein. Am Tag der Tat telefonierte Marija noch mit L.s Schwester. "Wir haben ausgemacht, dass wir alle um spätestens 20 Uhr zu Hause sind und die Polizei rufen, falls wir meinen Bruder sehen." Er habe sich trotz der Trennung im Haus herumgetrieben, "jeder hatte Angst, dass etwas passiert".

Was nach der Tat geschah

Nach der Tat wurde L. erst ins Krankenhaus, dann in einen Beobachtungshafttraum gebracht. Er weinte viel, wirkte sediert und bekam Beruhigungsmittel. Fünf Tage nach der Tat schon wurde ihm unter anderem eine kombinierte Persönlichkeitsstörung diagnostiziert, außerdem eine Verhaltensstörung durch "multiplen Substanzgebrauch". An dem Tag sprach er auch ausführlich über seine Vergangenheit, darüber, dass er seit Jahren trinke – Bier, Schnaps, ein bis drei Flaschen Wodka am Tag, dazu Koks, Beruhigungsmittel und Gras. An dem Tag, an dem er seine Partnerin getötet haben soll, soll er 100 Tropfen Psychopax genommen haben – erinnern will er sich an die Tat nicht.

Die darauffolgenden Wochen waren, so geht aus dem Gutachten hervor, schwierig – für Beamte wie Beschuldigten. Er weigerte sich, seine Medikamente zu nehmen, verunstaltete seine Zelle. Außerdem, so heißt es in einem Bericht, sei er hochmanipulativ: "Es besteht der dringende Verdacht, dass er versucht, über die angegebene Symptomatik die Basis für eine mildere Verurteilung zu erreichen", schreibt man Anfang Juli über ihn.

Der Bierwirt zeigt offenbar auch bis heute keine Einsicht, was den mutmaßlichen Mord an Marija M. angeht. Im Gegenteil, sehe er sich "als Opfer der Beziehung und meint, dass das Opfer sicherlich kein Kind der Traurigkeit gewesen sei und Beziehungen mit anderen Männern neben ihm gehabt habe".

L.s Lebenseinstellung wird in dem Gutachten als "antisozial" beurteilt. Man könne gar von einer "schweren seelischen Abartigkeit" sprechen, heißt es an anderer Stelle. In den Dokumenten wird der Bierwirt schlussendlich ganz klar als Gefahr definiert. So fühle sich dieser teilweise von seinen bisherigen Rechtsanwälten, Justizwachebeamten, aber auch anderen "äußerst ungerecht behandelt". Diese könnten als zukünftige Opfer "nicht ausgeschlossen werden". Außerhalb einer Anstalt seien "derartige Risiken jederzeit gegeben".

L.s Gefährlichkeitsprognose fällt entsprechend "sehr ungünstig" aus. Es könne nicht ausgeschlossen werden, dass der Bierwirt auch künftig Taten wie die ihm vorgeworfene begehen könnte. Daher wird in dem Gutachten "aus forensisch-psychiatrischer Sicht" dafür plädiert, L. in einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher unterzubringen. (Lara Hagen, Jan Michael Marchart, Gabriele Scherndl, 18.10.2021)