Es ist nicht leicht, über sich selbst zu reden, es ist so, als würde man in den Spiegel schauen", schreibt Ilse Aichinger in einem frühen Text, und doch "haben wir (…) kein anderes und müssen uns darin durchschauen und müssen den Spiegel zum Fenster machen."

Gedicht von Ilse Aichinger an ihre Zwillingsschwester Helga, ca. 1939. Das Faksimile stammt aus dem Buch "Ich schrieb für Dich und jedes Wort aus Liebe", siehe Angaben unten.
Foto: Deutsches Literaturarchiv Marbach

Vielmehr auf den Blick durch den Spiegel kommt es also an. So hat Ilse Aichinger wohl sich selbst und die Welt betrachtet und mit diesem Durchblicken von sich und der Welt geschrieben. Der besagte Text erschien im Jänner 1951 im Ulmer Monatsspiegel unter dem lyrischen Titel Die Vögel beginnen zu singen, wenn es noch finster ist.

Er fand Jahrzehnte später im von Samuel Moser herausgegebenen Leben und Werk-Band Aufnahme, und man hätte sich damals, 1990, schon gewünscht, mehr von früheren Aichinger-Texten lesen zu dürfen, die in Zeitschriften und Anthologien veröffentlicht wurden. Unter dem bekannten, aus dem Jahr 1946 stammenden Titel Aufruf zum Mißtrauen ist nun der Band Verstreute Publikationen 1946–2005 erschienen, mit Texten aus sechzig Jahren, von den frühesten Veröffentlichungen bis zum zuletzt Geschriebenen.

Ilse Aichinger, "Aufruf zum Mißtrauen. Verstreute Publikationen 1946–2005". Hg. von Andreas Dittrich. 25,70 Euro / 320 Seiten. S.-Fischer-, 2021
Cover: S. Fischer Verlag

Aus dem Jahr 1946 stammt etwa der im Wiener Kurier veröffentlichte Beitrag Bitte – Stefan Zweig!, der davon erzählt, wie während der NS-Zeit Jugendliche in einer Leihbibliothek immer wieder nach einem Buch von Stefan Zweig fragen.

Die gemurmelte Antwort des Bibliothekars verrät ein dunkles Kapitel Zeitgeschichte: "Ich hätte ihn längst verbrennen sollen." Aber getan hat er’s nicht, und irgendwann tragen die jungen Leser dann doch heimlich in der Schultasche ein paar der verbotenen Bücher nach Hause. "So wurden sie Brennmaterial für unsere Herzen."

Unvollständige Sammlungen

Solche Beispiele sind weit über den biografischen Kontext hinaus aufschlussreich, das gilt für die meisten der insgesamt hundert hier versammelten Texte, und so erfreulich es ist, dass man bisher schwer zugängliche Literatur nun gesammelt lesen kann, so gilt es doch vorweg das Defizit der Unvollständigkeit zu bemängeln, das solchen Sammlungen oft anhaftet.

So wurde zum Beispiel die so wegweisende erste Veröffentlichung Das vierte Tor aus dem Jahr 1945 nicht berücksichtigt, weil Aichinger sie – allerdings mit Korrekturen – 1991 in ihre Werkausgabe aufgenommen hat, als Anhängsel zur Größeren Hoffnung. Dennoch wäre es wichtig gewesen, die Urfassung hier wiederzugeben.

Es fehlen aber auch jene ungefähr 200 Texte, die Aichinger zwischen November 2000 und Juni 2005 für den STANDARD und die Presse schrieb. Sie wurden leider nur teilweise in Aichingers letzte Bücher Film und Verhängnis (2001), Unglaubwürdige Reisen (2005) und Subtexte (2006) aufgenommen, und man hätte doch erwartet, den damals dort nicht berücksichtigten Kolumnentexten hier begegnen zu dürfen.

Überhaupt hätte man sich zum 100. Geburtstag eine kritische Gesamtausgabe bei S. Fischer erhoffen dürfen, ebenso eine längst fällige Biografie – Aichingers Nachlass im Marbacher Literaturarchiv böte dafür reichlich Material, und nicht zuletzt ist ihre Lebensgeschichte ebenso wie die Geschichte der Literatur nach 1945 so bedeutsam wie stoffreich ...

Fragmentarische Biografie

Thomas Wild, "ununterbrochen mit niemandem reden. Lektüren mit Ilse Aichinger". 28,80 Euro / 368 Seiten. S.-Fischer- Verlag, 2021
Cover: S. Fischer Verlag

Ein wenig Abhilfe schaffen allerdings Thomas Wilds Lektüren mit Ilse Aichinger, die man ansatzweise als fragmentarische Biografie und Werkanalyse lesen kann, legt der Autor doch den Fokus auf Aichingers Erinnerungsliteratur, besonders den Prosaband Kleist, Moos, Fasane.

Wild ist dabei etwas gelungen, was die Literaturwissenschaft nur selten leistet, nämlich aus sprachlichen Detailanalysen das große Ganze zu vermitteln. Den Ausgang bildet ein typischer Aichinger-Satz, der der herkömmlichen grammatischen Logik eigentlich zuwiderläuft: "Erinnerung begreift sich nicht zu Ende."

Subjekt und Objekt

Erinnerung wird selbstreflexiv verwendet, ist zugleich Subjekt und Objekt – diese "Doppelkodierung" bestimmt wesentlich Aichingers Werk, dem der Autor immer wieder auf zugrunde liegende biografische Verflechtungen nachspürt: die emotionale Kindheit in Wien, das Auseinanderreißen der Familie durch Emigration und Deportation, das Zusammenfinden nach 1945 zwischen Wien und London – Prozesse, die zur Aichinger’schen Poetik der Erinnerung führen und sich in Schlüsselwörtern und Bildern ("Tropen") niederschlagen.

Hier versteht der Autor eine eigene Spannung zu erzeugen, indem er immer wieder literarische Motive und Bilder mit biografischen Zeugnissen wie Tagebucheintragungen oder Fotos in Verbindung setzt. Das macht Aichingers Werk auf einer noch wenig bekannten, manchmal sogar mikroskopischen Ebene sichtbar, denn Thomas Wild zeigt sich experimentierfreudig, zerlegt Schlüsselwörter in Grapheme und Phoneme oder setzt Assoziationsketten in Gang, um letztlich neue Zusammenhänge deutlich zu machen.

Mit dieser Methode versucht er nicht nur den von Ilse Aichinger angesprochenen "Vertrauensbruch" zwischen Wort und Ding erklärbar zu machen, Wilds Analysen sind der bisher eindrücklichste Versuch einer Entschlüsselung der Poetik Aichingers. Nicht zuletzt, so der Autor, will er mit diesem Buch "eine Einladung aussprechen: zum Lesen". Man sollte sie annehmen und Ilse Aichinger noch gründlicher entdecken lernen!

Vielschichtige Kontextualisierung

Ilse Aichinger Wörterbuch, Hg. von Birgit Erdle und Annegret Pelz. 22,70 Euro / 368 Seiten. Wallstein- Verlag, 2021
Cover: WAllstein Verlag

Aichinger-Lektüren in großer Vielfalt gibt es auch im bei Wallstein erschienenen Ilse Aichinger Wörterbuch, von "Atlantik" bis "Zwilling". Die 72 von unterschiedlichen AutorInnen verfassten Stichworte schaffen auf lexikalisch-essayistischer Ebene eindrückliche Querverbindungen zwischen Leben und Werk.

Hier gelingt mit dem "Herausreißen" einzelner Wörter eine vielschichtige Kontextualisierung, die weit über ein bloßes Nachschlagen in Aichingers Literatur hinausgeht.

So spürt etwa Gisela Steinlechner unter dem Stichwort "Beerensuchen" nicht nur einer Kindheitssituation und der Erinnerung als poetischem Moment nach, sie entdeckt, mit einer Reflexion auf Stifter, darin auch die Autorin selbst, die im "Unwegsamen der Sprache" suchend unterwegs ist.

Helga und Ilse Aichinger, "‚Ich schreib für Dich und jedes Wort aus Liebe‘. Briefwechsel, 1939–1947". 26,00 Euro / 380 S. Edition Korrespondenzen, 2021
Cover: Edition Korrespondenzen Verlag

In diesem Sinne ist auch der in der Edition Korrespondenzen erschienene Briefwechsel der Zwillingsschwestern Ilse Aichinger und Helga Michie ein Entdeckungsbuch. Die schriftlichen Zeugnisse (Briefe, Postkarten, knappe Nachrichten über das Rote Kreuz) reichen von 1939 bis 1947, diese Jahre markieren die Eckpunkte von Trennung und Wiedersehen: Mit einem Kindertransport hat Helga am 4. Juli 1939 Wien verlassen, erst acht Jahre später, am 8. Dezember 1947, sollten die beiden Schwestern, Mutter und Tante an der Victoria Station in London wieder zusammentreffen.

Ein Teil der Korrespondenz, die mit Fortdauer des Krieges immer eingeschränkter wurde und Anfang 1944 abriss, ist nicht zuletzt deswegen "fiktiv": Über die Jahre hin spricht Ilse Aichinger mit ihrer Schwester in Form von Tagebucheintragungen, die die Adressatin erst nach dem Krieg erreichten.

Auch literarische Texte, Zeichnungen, Fotos sind Teil des Briefwechsels – Material, das nicht nur das Familiengeschichtliche verdichtet, sondern auch wesentlich zum Verständnis der frühen Aichinger-Texte beiträgt.

Radio-Essays

Ilse Aichinger, "Die Frühvollendeten. Radio-Essays". Hg. von Simone Fässler. 20,00 Euro / 196 Seiten. Edition Korrespondenzen, 2021
Cover: Edition Korrespondenzen Verlag

Die Edition Korrespondenzen macht auch noch andere Zeugnisse erstmals in Buchform zugänglich: Radio-Essays, die Aichinger zwischen 1955 und 1958 für den NDR und NWDR verfasst hat: literarische Porträts von Trakl, Stifter, Wolfgang Borchert oder den Geschwistern Scholl.

Radio-Essays waren damals ein beliebtes und auch begehrtes Format, die Sender zahlten gut, die Autoren fanden ein breites Publikum. 1957 startete der Norddeutsche Rundfunk eine Reihe über "frühvollendete Dichter und Schriftsteller", eigentlich sollte dafür Günther Eich gewonnen werden, der allerdings seine Ehefrau vorschlug …

Der dritte Zwilling

Apropos Eich und Aichinger: Im Rahmen der Salzburger Bachmann Edition erscheint rechtzeitig auch deren Korrespondenz mit Ingeborg Bachmann. Aichinger und die um fünf Jahre jüngere Bachmann waren seit 1947 eng befreundet, der familiäre Ton bezeugt die tiefe Verbindung.

Für Aichingers Mutter war die Bachmann gar der "3. Zwilling", für Günther Eich die "kleine Schwester". Und auch mit der Zwillingsschwester in London stand Bachmann in enger Beziehung, als wäre sie tatsächlich ein Familienmitglied. Und doch zerbrach die Verbindung plötzlich 1962, ohne dass es jemals noch zu einem Kontakt kam.

Bachmanns Welt, hat Aichinger einmal bekundet, sei ihr mit der Zeit fremd geworden. Ihre Mutter bemängelte schon 1959 Bachmanns "Talent für Publicity", das in der Aichinger-Familie nicht gut ankam. Der Briefwechsel endet übrigens mit einem nicht abgesandten Brief Ingeborg Bachmanns, vielmehr einem undatierten Fragment: "Liebes Ilselein, / ich hab’ das Gefühl, viel zu wenig gesagt zu haben, Dir zu wenig gedankt zu haben, Dich zu wenig oft gesehen zu haben, –" … Dabei war es Ilse Aichinger, die offenbar beschlossen hatte zu schweigen.

Eine tiefergehende Verstimmung muss es wohl gegeben haben, denn noch in einem Gespräch im Jahr 2003 meinte Ilse Aichinger über die einstige Kollegin und Freundin, dass das meiste, was sie geschrieben habe, "falsch" sei. Ein hartes Urteil. (Gerhard Zeillinger, ALBUM, 1.11.2021)