Nein, zu Allerheiligen oder Allerseelen hat man Stefan Langer nicht am Zentralfriedhof gefunden. Jedenfalls nicht laufend. Wenn ganz Wien seine Toten besucht, sei dort Ausweichen nicht möglich: "Trauer", sagt der Wiener Rechtsanwalt, "verdient Rücksicht." Und auch wenn Langer sonst natürlich nicht johlend über Grabsteine springt, sei es eine Frage des Fingerspitzengefühls, zu wissen, wann etwas okay sei – und wann nicht: Laufen am Zentralfriedhof etwa.

An einem normalen Sonntagvormittag hat der Vielläufer damit aber kein Problem: Die ruhigen Wege, die schattigen Alleen, die weiten Plätze hier sind Bausteine im Routenrepertoire des Masterminds von "Weekly Long Run", der wohl größten Sonntagslaufcommunity Wiens mit mitunter bis zu 80 Läufern.

Gehört sich das?

Das war nicht immer so: Als Langer vor vier Jahren das erste Mal im Laufgewand an einem der Tore des 2,5 Quadratkilometer großen Totenparks stand, war er skeptisch. Zauderte. Laufen am Friedhof? Darf man das überhaupt? Respektive, auch wenn es nicht verboten ist: Gehört sich das? "Un’gschaut", wie es auf Wienerisch heißt, hätte Langer "Nein" gesagt. Doch er schaute, lief – und änderte seine Meinung: "Wenn man genug Abstand zu Trauernden halten kann, halte ich es inzwischen für okay."

An dieser Stelle protestiert dann trotzdem immer jemand. Meist Personen, die hier noch nie gelaufen sind. Die verweist nicht nur der Rechtsanwalt auf Schilder am Wegesrand: Auch Renate Niklas zeigt dann auf die "Silent Run"-Tafeln. Die Friedhofsverwaltung lädt dezidiert zum Laufen auf dem Zentralfriedhof ein – und Renate Niklas zeichnet dafür verantwortlich: Vor fünf Jahren wechselte die damalige Leiterin der Personalabteilung der Wiener Linien zu den Friedhöfen. Wurde Geschäftsführerin der 46 von der Stadt betriebenen Friedhöfe, die mit mehr als 500 Hektar Fläche zusammen so groß sind wie der 20. Bezirk, die Brigittenau. 380 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und 550.000 Grabstellen betreut Niklas. 1600 Ehrengräber. 28.000 Bäume und 135.000 Quadratmeter Naturwiesen.

Auf sechs Friedhöfen gibt es Bienenstöcke (mit etwa zwei Millionen Bienen) – und am Zentralfriedhof wird seit Anfang Oktober eine Photovoltaikanlage errichtet. Die soll einmal 600 Haushalte versorgen. Den Energiebedarf der Friedhof-Leih-E-Bikes und einer Filiale der Kurkonditorei Oberlaa wird die 1,4-Megawatt-Anlage wohl noch mitschnupfen. Renate Niklas ist auf all das stolz. Aber ganz besonders auf das "Gänsehautfeeling", die "unglaubliche, positive Energie", als hier im September über 9000 Menschen im Rahmen der "Nachruf"-Konzertreihe gemeinsam mit Wolfgang Ambros sangen: "Es lebe der Zen tralfriedhof". Niklas’ Leitmotiv. Denn "der Tod ist Teil des Lebens".

Renate Niklas will die Wiener Friedhöfe im wahrsten Sinne lebendiger machen.
Foto: Christian Fischer

Es lebe der Zentralfriedhof

Eine Zeile der Hymne auf die Totenstadt unterschreibt die Friedhofsmanagerin aber nicht: jene, wonach der Eintritt auf den Friedhof Lebenden "ausnahmslos verboten" sei. Renate Niklas will das Gegenteil. Die Lebenden auf den Friedhof holen nämlich. Nicht erst, wenn ein Trauerfall ansteht, sondern davor: mitten im Leben – und am liebsten dann, wenn es am schönsten ist. Egal ob beim Laufen, in der Konditorei, bei einer E-Bike- oder Fiakerrundfahrt, bei einer Architektur- oder Artenvielfaltsführung – oder beim Open-Air-Konzert.

Nur: Warum? Die Belebung und Eventisierung der Friedhöfe lediglich mit dem morbiden Charme Wiens zu erklären, wäre zu einfach. Zu nahe am Klischee. Aber "aus wirtschaftlichem Kalkül" doch zu plump. Dennoch stimmt beides. "Genau genommen ist Friedhofsmanagement Immobilienmanagement.

Aber kaum jemand weiß und niemand bedenkt, dass auch Friedhöfe gewinnorientierte Unternehmen sind – "oder zumindest so agieren müssen, dass sie sich wirtschaftlich selbst tragen können", erklärt Niklas. 38 Millionen Euro gelte es pro Jahr zu erwirtschaften – den Löwenanteil davon machen Personalkosten aus. Das, so Niklas, gelänge auch. Nicht zuletzt, weil 90 Prozent der jährlich "ablaufenden" Gräber von den Hinterbliebenen auch verlängert würden: Auch so lasse sich Kundenzufriedenheit messen.

Denn Niklas’ Kunden sind nicht die Toten, sondern die Lebenden. Menschen, die die Gräber ihrer Verstorbenen erhalten. Laut einer Studie des privaten Bestattungsunternehmens Himmelblau hat sich nur jeder Zehnte noch nie über den eigenen Tod, nur jeder Vierte noch nie Gedanken über das eigene Begräbnis gemacht. Das, erklärt Friedhofschefin Niklas, beträfe auch sie: "Am Ende möchten alle ein schönes Platzerl haben: Wir wollen gepflegte Anlagen, wir möchten sie zugänglich haben. Aber dafür muss der Wiener auch sagen, ‚das ist mir das Geld wert‘." Und dieser Wert, ist Niklas überzeugt, entsteht durch Emotionen. Durch positive Erlebnisse. Die Tradition des Trauerns alleine sei zu wenig: "Dort bin ich gelaufen, dort war ich im Café, dort habe zum Ambros gejubelt – da ist es mir auch das Geld wert, dort ein Grab zu halten. Und zwar nicht nur für die ersten zehn Jahre."

Es ist kein Naturgesetz, dass jeder Wiener nach dem Tod auf einem der Stadtfriedhöfe landet. Zum einen wegen der Konkurrenz "von außen": Nur 46 der 55 Friedhöfe gehören der Stadt. Rückführungen von Verstorbenen in ehemalige Heimatstaaten- oder bundesländer nehmen zu. Ebenso wie das (an genau bestimmten Orten legale) Verstreuen der Asche von Kremierten.

Es gibt weniger Tote

In Zahlen relevant ist aber etwas anderes: Es gibt weniger Tote. Die Zahl der Beerdigungen auf den Wiener Friedhöfen ist mit rund 13.000 pro Jahr in den vergangenen Jahren zwar relativ konstant, aber Demografie und die steigende Lebenserwartung machen selbst den Tod zu einem umkämpften Markt, erklärt der Geschäftsführer der Bestattung Wien, Jürgen Sild. Die, das nur nebenbei, gehört so wie die Friedhöfe zur Wien Holding, ist aber ein eigenständiges Unternehmen. "Seit den 1970er-Jahren gibt es einen massiven Rückgang an Verstorbenen." Waren es laut Sild dereinst über 25.000, halte Wien nun bei 15.000 Toten pro Jahr.

Ein höheres Sterbealter, aber vor allem das Wachsen der Stadt werde die Zahlen mittelbar zwar wieder steigen lassen, doch um wirtschaftlich zu reüssieren, müssen sich Bestatter wie Friedhofsbetreiber ins Zeug legen. Sild und seine 230 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in 17 städtischen Bestattungsfilialen ganz besonders – schließlich fiel 2002 das Bestattungsmonopol, das unter Karl Lueger 1907 in Wien verfügt wurde.

Bis dahin war das "Entreprise des pompes funèbres" nämlich wirklich ein heiß umkämpftes, freies Geschäftsfeld. Das ging so weit, dass Hausbesorger den "Pompfüneberern" gegen einen Obolus zu erwartendes Geschäft avisierten – und "die Totengräber auf der Matte scharrten, während die Verwandten noch auf Krankenbesuch waren", erzählt Sild. Das Monopol von 1907 machte das Wiener Bestattungsunternehmen zu einem der größten Europas – und das sind sie bis heute: "Dass wir trotz des intensiven Mitbewerbs einen Marktanteil von über 70 Prozent haben, werten wir als Kompliment, als Vertrauensbeweis."

Service auf Facebook

Diesen Status zu halten, sei eben nicht selbstverständlich, betonen Sild und Niklas unisono und suchen – da sich die Zielgruppe ja nicht erweitern lässt – nach neuen Strategien, Serviceleistungen und Produkten. Bei den Bestattern gehören da nicht nur pompöse Begräbnis arrangements mit nach oben offenem Preisniveau dazu, sondern auch vermeintliche Kleinigkeiten. Von der Hilfe beim Abmelden und Stilllegen der Konten bei Facebook und Co reicht das bis zu Amuletten mit DNA-Proben oder Fingerabdrücken – oder einem Erinnerungskristall, in dem Asche eingefasst wurde.

Renate Niklas integriert "ihre" Friedhöfe deshalb nicht nur ins wirkliche, sondern auch ins virtuelle Leben der Lebenden: Seit 2020 gehört zu jedem physischen auch ein "digitales Grab". Nicht nur, um Verwaltungsschritte digital durchführbar zu machen, sondern auch und vor allem, um virtuelle "Gedenk- und Erinnerungsräume" dort zu schaffen, wo Hinterbliebene ihre Liebsten in Gedanken seit jeher verorten: auf respektive in der "Cloud". (Thomas Rottenberg, 3.11.2021)