Wollen "mehr Fortschritt wagen": FDP-Chef Christian Lindner, Olaf Scholz (SPD), Annalena Baerbock und Robert Habeck (Grüne).
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"Wall Street Journal" (New York): Fehlender Ehrgeiz

"Der neue Kanzler, der auf Angela Merkel folgen soll, wird Olaf Scholz sein. Sein relativer Erfolg in der Abstimmung im September beruhte auf der Wahrnehmung, dass er nach der Merkel-Ära ein wenig verändern würde, aber nicht zu viel. Der Koalitionsvertrag, den er ausgearbeitet hat, bestätigt dies. Was den politischen Kurs angeht, so betreffen die wichtigsten Elemente des Koalitionsvertrags das Klima. Das war der Preis, den Scholz zahlen musste, um die Grünen an Bord zu behalten.

Das Personal der neuen Regierung wird wahrscheinlich wichtiger als das politische Programm. Grünen-Co-Chefin Annalena Baerbock soll Außenministerin werden und kann von dieser Position aus den Unmut ihrer Partei über Menschenrechtsverletzungen in Russland und China untermauern. Die Politik mag sich nicht viel ändern, auch nicht in Bezug auf Russlands umstrittene Gaspipeline Nord Stream 2. Aber ein strengerer Ton wäre eine bescheidene Verbesserung im Vergleich zu Merkel. Wenn all das nach fehlendem Ehrgeiz klingt, liegt das daran, dass es so ist. Die Deutschen haben abgestimmt, als wollten sie eine Regierung, die wichtige Auseinandersetzungen über die wirtschaftliche oder strategische Ausrichtung des Landes aussitzt. Der Wunsch der Wähler wurde zur Koalition von Scholz."

"Kommersant" (Moskau): Konstruktiver Dialog

"Aus dem Vertrag folgt, dass Berlin zu einem konstruktiven Dialog mit Moskau bereit ist und auch russischen Bürgern bis 25 Jahre eine visafreie Einreise erlauben will. Die wahrscheinliche neue Außenministerin Annalena Baerbock ist zwar nicht nur einmal mit kritischen Äußerungen an die Adresse Moskaus aufgetreten, doch ruft man in den staatlichen Strukturen der Russischen Föderation dazu auf, daraus keine voreiligen Schlüsse zu ziehen. Es wird darauf hingewiesen, dass stets der Kanzler persönlich die deutsche Politik im Verhältnis zu Russland gesteuert hat.

Insgesamt ist der Teil, der den Beziehungen zu Russland gewidmet ist, von Konstruktivität geprägt: Die Autoren der Vereinbarung sprechen mehr von Möglichkeiten einer Zusammenarbeit als von Meinungsverschiedenheiten. Das heikle Thema der Ostseepipeline Nord Stream 2 wird ausgespart, was der neuen Regierung mehr Bewegungsspielraum gibt bei den Verhandlungen mit Russland und den USA. Angemerkt wird auch, dass die Politiker auf eine Fortsetzung der Abrüstungsverhandlungen zwischen Russland und den USA hoffen – und dass sie es für nötig halten, auch China hier einzubinden."

"De Standaard" (Brüssel): Spannendes Experiment

"Bis 2045 will Deutschland klimaneutral sein. Um dieses ehrgeizige Ziel zu erreichen, werden sowohl die Regierung als auch die Wirtschaft eingespannt. 'Made in Germany' soll zum Begriff für Unternehmen werden, die bei grünen Technologien weltweit führend sind. Es steht aber auch für eine Regierungspolitik, die die Klimaziele in ihre Entscheidungen einbezieht. (...)

Die Schwerpunkte, die dieses neue Team setzen will, sind laut den Verhandlungsführern nicht die Summe der Parteipositionen, sondern eine heftig diskutierte Vision, wie Deutschland gleichzeitig grün, sozial und liberal sein kann. Es wird ein spannendes Experiment: Zum ersten Mal in der Nachkriegsgeschichte wird Deutschland von einem Dreierbündnis regiert werden, das sich aus Politikern zusammensetzt, die einen klaren Bruch mit der Vergangenheit vollziehen wollen."

"Neue Zürcher Zeitung" (Zürich): Erkaufte Harmonie

"Die Koalitionäre erkennen die drängenden Probleme im Land, auf dem Weg zur Lösung verlaufen sie sich aber immer wieder im Unterholz. Das mag an weltanschaulichen Differenzen liegen oder auch am fehlenden Mut, die richtig dicken Bretter zu bohren. Davor hat sich schon die scheidende Kanzlerin Angela Merkel 16 Jahre lang gedrückt. Machterhalt hieß ihre stille Devise, der sich alles andere unterordnete. Sollten es SPD, Grüne und FDP ähnlich halten, wäre das stets wiederholte Mantra von Aufbruch und Fortschritt nur Gerede.

Aber vielleicht geht es auch eine Nummer kleiner: Der Grünen-Chef Robert Habeck sagte am Mittwoch einen wichtigen Satz: Er versprach 'ein Deutschland, das schlichtweg funktioniert'. Gerade in der Pandemie hat nicht viel geklappt, daher werden SPD, Grüne und FDP schon genug zu tun haben, um nur diesen Anspruch zu erfüllen. Das Zusammenspiel der unterschiedlichen Partner läuft erstaunlich geräuscharm. Die Harmonie scheint jedoch mit Kompromissen erkauft zu sein, die eher dem Bündnis zugutekommen als dem Land."

"Süddeutsche Zeitung" (München): "Wenn sein Geist trägt"

"Erfolg oder Misserfolg dieser Koalition werden sich nicht daran messen, was auf den 178 Seiten festgehalten ist. Mehr als in den Merkel-Jahren wird es darum gehen, Menschen auf einem schwierigen Weg mitzunehmen – anstatt Politik an Stimmungen auszurichten. Das gilt für Corona wie für Klimaschutz, Digitalisierung und Verkehr. Es gehört zu den menschlichen Eigenschaften, lieber an Bekanntem festzuhalten als Neues zu wagen; der Erfolg der Ampel wird davon abhängen, die Bürger zu überzeugen, dass Politik keine Dienstleistung ist, sondern ein Angebot zum Mitmachen. Man kennt Fälle, in denen ein Regierungsbündnis gehalten hat, obwohl ein Partner gegen den Vertrag verstoßen hat, mehrmals sogar oder immer wieder. Die Erfahrung lehrt zudem, dass es im Laufe einer Wahlperiode zu Krisen kommt. Terroranschläge, Bankencrashs, Fluten, Morde. In solchen Fällen taugt ein Koalitionsvertrag gar nichts. Hier hält das Bündnis nur, wenn sein Geist trägt."

"The Times" (London): Lebhafte Jahre

"Die Koalition wird sich sofort mit dem raschen Anstieg der Corona-Infektionen und der Unzufriedenheit in vielen Städten befassen müssen. Sie muss außerdem eine Führungsrolle bei dem Versuch der EU übernehmen, Maßnahmen zum Schutz der EU-Bürger zu koordinieren und gleichzeitig die Grenzen offen zu halten.

Darüber hinaus wird Deutschland den Ton angeben, wie die EU auf die zunehmenden Provokationen Russlands reagiert, und es könnte auch im Umgang mit China, das seit langem ein wichtiger Exportmarkt ist, mehr Vorsicht walten lassen.

Aber Olaf Scholz wird gegenüber Großbritannien nicht zimperlich sein. Der Koalitionsvertrag enthält ausdrücklich eine Bestimmung zur Aufrechterhaltung des Nordirland-Protokolls. Boris Johnson (der britische Premier, Anm.) könnte in Berlin auf eine härtere Haltung stoßen als Angela Merkels müde Nachsicht. Scholz kommt mit Erfahrung, einer liberalen Agenda und hohen Beliebtheitswerten ins Amt. Deutschland und seine Nachbarn können sich auf lebhafte vier Jahre einstellen."

"La Repubblica" (Rom): Wichtigste Prüfung Pandemie

"Die großen Krisen sorgen für starke Beschleunigung bei historisch-politischen Prozessen: Nach der langen Regierungszeit von Angela Merkel kehrt ein Sozialdemokrat an die Spitze einer deutschen Regierung zurück. Die dramatische Ausbreitung der Pandemie hat leibhaftig als Geburtszange funktioniert, um die Parteien der entstehenden Koalition zu einer fiebrigen Suche nach einer Einigung für ihr Programm zu zwingen. (...)

Die Initiativen zur Bekämpfung der Ausbreitung der Pandemie, die in Deutschland dramatische Ausmaße erreicht hat, werden natürlich die wichtigste Prüfung für die neue Regierung darstellen, auch weil sie das empfindliche Gleichgewicht des deutschen föderalen Systems berühren: in erster Linie das Verhältnis zwischen Bund und Ländern."

"El Mundo" (Madrid): Lokomotive Europas

"Es ist eine großartige Nachricht und mit Sicherheit auch eine große Erleichterung, dass Deutschland, die unbestrittene Lokomotive Europas, ohne weitere Verzögerung eine neue Regierung haben wird. Das Land braucht eine starke und voll handlungsfähige Führung, um vor allem die schlimmste Infektionswelle seit Beginn der Coronavirus-Pandemie zu bewältigen. Nicht nur wegen der gesundheitlichen Sorgen, sondern auch, weil die Bewältigung dieser Herausforderung dringend erforderlich ist, um die Auswirkungen auf die Wirtschaft in Europa abzumildern." (APA, dpa, 25.11.2021)