Vor ein paar Dutzend Jahren war es. Im Heidedorf Bargfeld, ganz am Rande, lebte ein Schriftsteller mit seiner Frau. Das heißt, eigentlich lebten sie nicht mehr zusammen, eher nebeneinanderher, besser noch: übereinander.

Nach einem Schlaganfall hatte er seinen geliebten Arbeitsplatz oben am Giebelfenster aufgeben müssen und war nach unten gezogen. Seine Frau lebte nun oben, durch eine Falltür von ihm getrennt. Für Notfälle gab es eine Sprechanlage. Dennoch war jetzt alles, wie er es immer gewollt hatte. Stets hatte er die Einsamkeit gesucht und die Menschen gemieden, so gut es ging. Nur wenige schienen ihm wertvoll. Kaum einen Freund hatte er. Besuche kamen nur noch ganz selten und wurden nicht mehr im Haus empfangen, in einem Wohnwagen im Garten. Er wollte Ruhe. Ohne Störung als Schriftsteller arbeiten, mehr wollte er nicht. Das war sein Leben, so war er alt geworden.

Es hatte lange gedauert, bis er anerkannt wurde. Bedingt durch "Hitlerbarbarei", Krieg und Gefangenschaft, und weil er sich mit anderen Arbeiten sein Brot verdienen musste, kam sein erstes Buch spät heraus, als er 36 war. Zwar nahm es die Kritik wohlwollend auf, die Auflage aber war gering, und so blieb es auch bei seinen folgenden Büchern. Auf etwa zwei- bis dreitausend wurde seine Leserschaft anfangs geschätzt. Von seiner Arbeit als Schriftsteller leben konnte er nicht. Jedenfalls nicht bis in die jüngste Zeit hinein.

Sein größtes Werk

Immer herrschte Geldmangel, höchste Sparsamkeit, und wenn Geld da war, legte er es meistens in Büchern an. Geistesverwandte Autoren aus früheren Jahrhunderten liebte er besonders, die fantasievollen, die hellen Köpfe, die aufmüpfigen und widerständigen. Auch einige modernere schätzte er, einen Iren, ein paar Amerikaner.

Brillant hatte er einige von ihnen aus dem Englischen übersetzt. So war er inzwischen nicht nur ein großer Schriftsteller geworden, sondern auch ein Entdecker kaum noch bekannter Literatur und ein gefragter Übersetzer. Aber, wie gesagt, Übersetzen, Rundfunkessays über Literatur und Kurzgeschichten für Zeitungen schreiben galt ihm wenig, war "Brotarbeit". Zufrieden war er nur, wenn er eigene Bücher schreiben konnte.

Nach sechs Jahren härtester Arbeit war ihm ein enormes Werk gelungen; 1.334 Seiten stark, dreispaltig getippt im Format DIN A3 und mehrere Kilo schwer. Umgerechnet auf normalen Umfang und das übliche Format waren es mehr als 15 Bücher in einem. 25.000 Stunden hatte er daran gearbeitet. Es war immer sein Traum gewesen, dieses große Buch zu schreiben.

1970 erschien "Zettel's Traum". Damit hatte er sich seinen Platz in der Literaturgeschichte erobert. Niemand würde mehr an ihm vorbeikommen, wenn es in Zukunft um große Literatur ging. Arno Schmidt musste erwähnt werden. Aber um welchen Preis!? Seine Gesundheit war ruiniert, seine Freunde vertrieben, seine Ehe zerstört, niemand liebte ihn. Niemand? War nicht morgen Weihnachten, das Fest der Liebe?

Wer wagt es?

Was ging das ihn an? Den Weihnachtsrummel hatte er nie gemocht, war ihm zu rührselig. Nur seiner Frau zuliebe hatte er früher mitgemacht, und dann wurde meistens Schach gespielt. Sehr weihnachtlich war das nicht. Aber nun war auch das vorbei, er war allein. Seine Frau besuchte Verwandte. Niemand würde ihn stören. Ruhe, nur Ruhe. Mehr wollte er nicht. Jetzt konnte er umherstreifen in der Welt seiner Gedanken, hinausziehen ins Land seiner Fantasie.

Doch – irgendetwas störte ihn. Es kam von draußen. Was war es? Klopfte etwa jemand? Ja. Leise zwar, aber doch nicht zu überhören, pochte jemand an die Tür. Er ging nicht hin, vielleicht täuschte er sich ja. Es klopfte erneut, und wieder ging er nicht hin, blieb sitzen an seinem Schreibtisch, mürrisch, verärgert. Und noch einmal klopfte es. Dieses Mal sogar etwas lauter.

Gereizt stand er auf und ging, so schnell er konnte, zur Tür. Dem würde er es zeigen, so ein rücksichtsloser Bursche. Alle im Dorf wussten doch, dass er sich jede Störung verbeten hatte.

Wütend öffnete er die Haustür. Sie ging in den Garten hinaus, es war ziemlich dunkel. Er sah nichts. In seiner Eile hatte er vergessen, das Licht im Flur einzuschalten. Nur ein schwacher Schimmer drang aus seinem Arbeitszimmer dort hin. Sosehr er sich auch bemühte, er sah nichts. Stark kurzsichtig war er schon als Kind gewesen, sicher, aber vor ihm stand niemand. In ein Meter fünfundachtzig Höhe suchte er den Störer – und fand ihn nicht.

So war es immer gewesen

"Für dich, Herr Schmidt." Eine helle Kinderstimme drang herzhaft zu ihm herauf. Er blickte nach unten. Vor ihm stand die kleine Tochter eines Bauern aus der Nachbarschaft. Sie brachte immer die Milch. Er kannte das Mädchen. Sechs oder sieben Jahre alt durfte sie sein. Oft hatte er sie vom Fenster aus beobachtet, wie sie die Milchkanne an den Zaun hängte, abends, wenn die Kühe gemolken waren. So war es vereinbart: die Kanne bringen, hinhängen und am anderen Tag wieder abholen, sonst nichts. Bezahlen wird die Frau. So war es immer gewesen. Und so sollte es auch bleiben.

"Du weißt doch, dass du nicht stören sollst und die Milch nur ans Tor hängen." An das Tor, auf das er nicht wenig stolz war, hatte er es doch selbst entworfen und nach seinem Plan bauen lassen. "Ich weiß", sagte die Kleine, "aber heute ist was Besonderes, heute ist Heilichabend". So sprach sie und streckte ihm beide Arme entgegen, in der rechten Hand die Milchkanne, die linke war geschlossen. Die Kanne nahm er ihr ab. "Danke, und jetzt geh und stör mich nicht länger." Aber sie ging nicht. "Was ist denn noch, warum gehst du denn nicht?"

Sie streckte ihm weiter die geschlossene Hand entgegen. "Das ist für dich." "Was ist denn das?" Ohne ein Wort zu sagen, öffnete sie die kleine Hand. Darin lagen zwei Weihnachtskekse, ein Herz und ein Mond. Er beugte sich herunter und nahm sie von der feuchten Kinderhand, stumm. "Hab ich selbst gebacken, für dich. Sollst auch schöne Weihnachten haben. Mutter hat gesagt, du bist ganz allein." Sagte es, drehte sich um und verschwand. Schnell lief sie zum Tor, kletterte hinüber und rannte den Weg zurück.

Ulrike, das Mädchen, brachte immer die Milch an das Tor der Eheleute Schmidt.
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Ulrikes Geschichte

Was hatte sie für eine Angst gehabt, fast hätte sie es nicht gemacht, hätte nur die Milch an den Zaun gehängt und wäre wieder gegangen, wie schon so oft – und hätte gespannt auf den nächsten Morgen gewartet, um die leere Kanne wieder abzuholen. Denn – da war manchmal was Süßes drin: ein Stück Würfelzucker, ein Bonbon vielleicht, manchmal auch Lakritz. Aber heute Morgen, da war ein Weihnachtsmann aus Schokolade drin gewesen, über den hatte sie sich ganz besonders gefreut.

Wie die Süßigkeiten in die Kanne kamen? Gab es denn nicht die Frau des Schriftstellers, die selbst keine Kinder hatte, das Mädchen aber mochte? Bevor sie zu ihren Verwandten gefahren war, hatte sie der Kleinen diese Freude gemacht.

Das Mädchen kannte diesen fremden, großen Mann. Er war so anders als ihr Vater und die übrigen Männer im Dorf. Oft schon hatte sie ihn gesehen, wenn er spazieren ging mit seinem Stock, das Fernrohr umgehängt oder den Fotoapparat. Und immer hatte sie großen Respekt vor ihm gehabt, so streng war sein Gesicht hinter der dicken Brille. Aber sie mochte ihn, weil er ihr einmal freundlich zugelächelt hatte und weil er immer so ordentlich angezogen war. Sie wusste, dass die Leute aus der Stadt kamen. Im Dorf waren sie Fremde. Ihre Eltern hatten darüber gesprochen.

In seinem Garten hatte sie ihn öfter gesehen und im Sommer am Badeteich, wo auch die Dorfkinder badeten. Neugierig hatte sie ihn beobachtet, doch immer mit einer gewissen Scheu. So ungezwungen wie mit den anderen Leuten im Dorf konnte sie zu ihm nicht sein.

Mädchen mit Courage

Heute, beim Backen der Weihnachtskekse, hatte die Mutter mit der Nachbarin über ihn geredet: dass er ein großer Dichter sei, der ganz anders schreibe als die anderen. Ein paar Preise habe er auch schon bekommen. Aber er sei doch sehr einsam und allein. Seine Frau habe ihr das erzählt, und seit seinem Herzanfall im Sommer lebe er ganz zurückgezogen. Es gehe ihm gar nicht gut. "Der arme Mann!"

Das hatte sie gehört, und ihr kleines Kinderherz tat ihr weh. Sie hatte Mitleid mit dem Mann. Zwei ihrer Lieblingskekse suchte sie für ihn aus und nahm sich fest vor, sie ihm heute Abend zu schenken. Davor hatte sie große Angst, aber ihr Mitgefühl war noch größer.

Als es Abend wurde, nahm sie heimlich die Kekse, holte die Milchkanne und ging los. Ganz lang erschien ihr der Weg heute, viel länger als sonst. Es war kalt und düster, ein wenig Schnee lag auf den Feldern.

Je näher sie dem Haus kam, desto banger wurde ihr ums Herz. Schon wollte sie die Kanne ans Tor hängen und schnell zurücklaufen, wie immer. Doch sie erinnerte sich, wie auch sie einmal ganz allein und traurig war und wie sehr sie sich über einen Besuch gefreut hätte. Und sie fasste sich ein Herz. Die Milchkanne hängte sie ans Tor, kletterte hinüber, nahm die Kanne wieder ab, holte die Kekse aus der Schürze, atmete tief durch und lief schnell zur Tür. Sie klopfte – wartete – klopfte noch einmal – wartete wieder – klopfte etwas lauter und erschrak zu Tode, als die Tür plötzlich aufging und der große Mann im Halbdunkel vor ihr stand. Zum Glück sah er sie nicht gleich, so konnte sie ihren Schreck schnell überwinden und mit ihm sprechen.

Werde ich auf meine alten Tage noch sentimental?

Jetzt war sie froh und glücklich, dass sie sich das getraut hatte. Schnell lief sie nach Hause und erzählte alles der Mutter. Die staunte nicht schlecht über die Courage ihrer kleinen Ulrike, und sie nahm sich vor, die Bescherung heute ganz besonders schön zu machen. Der Schriftsteller sah dem Mädchen nach, wie es um die Ecke lief. "Danke", rief er ihm noch leise hinterher. Dann ging er hinein und schloss die Tür. In seiner offenen Hand dufteten wunderbar die Weihnachtskekse.

Nachdenklich wurde er, viele Bilder kamen ihm in den Sinn. Sein "gusseisernes Gedächtnis" führte ihn zurück in die norddeutsche Hafenstadt seiner Kindheit, in die ärmlichen Verhältnisse der elterlichen Wohnung. Wie sehr hatte er sich damals ein freundliches Zuhause gewünscht, viele Freunde und ein schönes Weihnachtsfest. Aber die Armut war so groß gewesen und seine Eltern so wenig in der Lage, ihm Liebe und Zuneigung zu geben, dass er dort in großer Einsamkeit und ohne Freunde aufwuchs. So war er schon als Kind darauf angewiesen, sich selbst ein schöneres Leben und eine bessere Welt durch seine Fantasie zu erschaffen. Das hatte sich bis heute nicht geändert.

Tief atmete er den köstlichen Duft des Weihnachtsgebäcks ein. Wenn damals jemand zu ihm gekommen wäre wie an diesem Abend, wer weiß, wie sein Leben dann geworden wäre. "Was soll mir das", rief er sich verärgert zur Räson, "werde ich auf meine alten Tage noch sentimental?" Weihnachten ist ein Fest der Christen. Hatte er nicht vor wenigen Monaten seine "Schule der Atheisten" veröffentlicht? Hatte er nicht den Satz geschrieben: "Wenn ich nicht schon von Geburt Atheist wäre, würde mich der Anblick Adenauer-Deutschlands dazu machen?" Was ging ihn Weihnachten an?

Seine Frau hatte oft von der "Schlesischen Weihnacht" geschwärmt, wie sie vor dem Krieg gefeiert worden war. Einen eigenen Ausdruck hatten sie dort für die Zeit von Weihnachten bis Neujahr: "Schlesische Fettlebe". Es weist darauf hin, wie üppig man in dieser Zeit aß und trank.

Ein Typ zum Genießen und Feiern war er nicht. Das machte er nur in seiner Fantasie, ausgiebig sogar. In der Realität war sein Schicksal Arbeit, nichts sonst. Vor ein paar Monaten erst hatte er sie als Allheilmittel "gegen alles" bezeichnet. Arbeiten wollte er auch jetzt, an diesem Abend, jetzt gleich. Er setzte sich neben die Zettelkästen an seinem Schreibtisch. In ihnen hatte er seine Notizen geordnet. Bei der Würdigung eines früheren Literatur-Arbeiters hatte er von der "Wonne der Zettelkästen" gesprochen – und starrte auf die Tasten seiner Schreibmaschine. Es ging nicht. Irgendwie war er aus dem Tritt gekommen. Immer wieder kehrten seine Gedanken zurück zu dem Mädchen mit der Milchkanne, zur Schlesischen Weihnacht, zu seiner eigenen traurigen Kindheit. Das Zimmer wurde ihm zu eng, es bedrückte ihn. Er wurde ärgerlich. Nichts wie raus hier, in die kalte Nacht. Die frische Luft würde ihm den Kopf wieder klären. Er trat vor die Tür.

Hinaus in die Winternacht

Der Mond war inzwischen aufgegangen. Groß hing er im Norden über den Kiefern. Das war gut. Der Mond war sein Gestirn. So oft hatte er ihn beschrieben und so viele passende Ausdrücke für ihn erfunden, dass er einmal meinte, man müsse einen Krater auf dem Mond nach ihm benennen. Stolz hatte er auch notiert: "Aber eines ist endlich erreicht (...). Ich sehe von meinem Schreibtisch aus den Mond aufgehen. Was mir das bedeutet, davon machen sich wenige Menschen einen Begriff."

Und jetzt? Wie sah der Kerl denn heute aus? Aufgedunsen blähte sich sein fleischrotes Gesicht, die Nasenknolle leuchtete säuferblau, und es schien, als lecke er sich die fetten Lippen nach einem köstlichen Mahl. Ein satter Gourmet blickte auf ihn herab, ein Genießer wie aus dem Bilderbuch. Ekelhaft, so etwas ihm, einem Mann der Askese. Verschmitzt sah ihn der Mond an und zwinkerte spöttisch mit den Augen.

"Verräter!", knurrte er wütend und drohte ihm heftig mit dem Stock. "Das wirst du mir büßen! Dir werd ich's zeigen!" Und missmutig stapfte er den Feldweg entlang, hinaus in die klare Winternacht. (József Wieszt, 24.12.2021)