Norbert Lammert kennt die CDU seit vielen Jahren von innen. Bereits 1980 zog er in den Bundestag ein, später war er lange dessen Präsident.

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Zweimal war Friedrich Merz mit seiner Bewerbung für den CDU-Vorsitz gescheitert. Beim dritten Anlauf, als die Mitglieder entschieden, klappte es. Am Samstag folgt die Kür zum Parteichef auf einem digitalen Parteitag. CDU-Urgestein Norbert Lammert spricht über den Zustand seiner Partei, die Rolle der AfD im Parlament und darüber, was die neue Oppositionsrolle für die CDU bedeutet.

STANDARD: Was wird mit Friedrich Merz besser für die CDU?

Lammert: Die Partei muss sich mit und ohne neuen Vorsitzenden nach einem solchen Einschnitt – dem Wechsel von der Regierung in die Opposition – neu aufstellen. Natürlich ist die Persönlichkeit an der Spitze relevant. Aber die Zeiten, in denen Erneuerungsprozesse als Ein-Mann- oder Ein-Frau-Unternehmen zu leisten waren, sind vorbei.

STANDARD: Merz muss also Teamfähigkeit beweisen?

Lammert: Vieles wird davon abhängen, wie gut dem neuen Chef die Einbindung von möglichst vielen neuen Rebellen wie älteren Kämpen gelingt. Die CDU muss unbedingt Volkspartei bleiben. Sich auf eine Zielgruppe zu kaprizieren und von dieser die Wiederherstellung der Mehrheitsfähigkeit zu erwarten ist eine zu vermeidende Versuchung.

STANDARD: Wie geht es der CDU?

Lammert: Dass eine Partei, die nicht nur historisch die Nachkriegsgeschichte der Bundesrepublik dominiert hat und in 52 von 72 Jahren den Kanzler stellte, nun nach einer erneut 16-jährigen Kanzlerschaft in der Wahrnehmung eines beachtlichen Teils der Wählerschaft oppositionsreif ist, ist eine schmerzhafte Erfahrung, gehört aber zu einer nüchternen Beschreibung der Lage. Als Staatsbürger kann ich diesem Rollenwechsel viel abgewinnen, als Parteimitglied missfällt er mir.

STANDARD: Warum sucht die CDU nun ihr Heil in einem Mann, der in der Wahrnehmung vieler für die Vergangenheit steht?

Lammert: Das sieht die Mehrheit der Mitglieder offenkundig anders. Friedrich Merz ist, auch in der öffentlichen Wahrnehmung, ein Parlamentarier mit Biss und Kompetenz. Und ich erinnere daran, dass die meisten CDU-Vorsitzenden, die in dieses Amt gewählt wurden, zunächst maßlos unterschätzt wurden – siehe Helmut Kohl oder Angela Merkel.

STANDARD: So gesehen hätte Herr Merz ja noch eine glänzende Karriere vor sich, bis hin zum Bundeskanzler.

Lammert: Jetzt ist die CDU erst mal in der Opposition. Das ist ungewohnt, aber auch nicht ganz neu. 1969 hatten wir die Bundestagswahl klar gewonnen, aber dann ging unser bisheriger Koalitionspartner SPD unter Führung von Willy Brandt mit unserem vermeintlich heimlichen Dauerregierungspartner FDP gegen uns eine Koalition ein.

STANDARD: Auch jetzt wurde Ihnen die FDP untreu. Sie regiert lieber in der Ampel als mit Jamaika. Schmerzt dieser Verrat?

Lammert: Das sollte man nüchtern betrachten. Mit Verratsbeschuldigungen kommt man genauso wenig weiter wie mit glühenden Liebeserklärungen. Wir haben uns auch nicht beklagt, als die FDP 1982 aus der sozialliberalen Koalition unter Führung von SPD-Kanzler Helmut Schmidt ausgestiegen ist und zur Union wechselte. Und ich habe keinen Zweifel, dass die meisten in der FDP bei der Bundestagswahl 2021 bis über den Wahlabend hinaus die Absicht hatten, mit der Union zu koalieren.

STANDARD: Und dann stritten CDU und CSU so sehr, dass man die FDP vergraulte.

Lammert: Die Beteiligten müssen sich schon ernsthaft fragen, was sie sich dabei gedacht haben, die Partner so vorzuführen, dass sie die FDP ernsthaft in die Arme der Konkurrenz getrieben haben.

STANDARD: Wie lange sollte sich die CDU auf Opposition einstellen? Bloß vier Jahre oder länger?

Lammert: Üblicherweise werden in Deutschland nicht bei jeder Bundestagswahl Regierungen gewechselt. Aber historisch dauern SPD-geführte Regierungen nur halb so lange an wie CDU-geführte.

STANDARD: Soll die CDU Frontalopposition machen?

Lammert: "Frontalopposition" kommt für die CDU nicht infrage. Das kann sich nur eine Partei leisten, die nicht Volkspartei sein will und auch nicht ernsthaft regieren möchte. Wer die Oppositionsrolle ernst nimmt, muss gleichzeitig Opposition sein und den plausiblen Eindruck einer möglichen künftigen Regierung vermitteln. Immerhin gibt es nun wieder eine anständige Opposition.

STANDARD: Sie spielen auf die AfD an, die nun nicht mehr die stärkste Oppositionsfraktion im Bundestag ist?

Lammert: Dass sie das zwischen 2017 und 2021 war, gehörte zu den unappetitlichen Begleiterscheinungen der neuerlichen großen Koalition in der letzten Legislaturperiode. Es ist gut und hilfreich, dass die AfD jetzt im Bundestag auf ihre natürliche, geschrumpfte und durch erste Fraktionsaustritte weiter verringerte Größe begrenzt bleibt.

STANDARD: Wie soll sich die CDU inhaltlich in der Opposition aufstellen?

Lammert: Auch wenn Sie mich des Übermuts verdächtigen werden: Die CDU ist die erfolgreichste Partei Europas nach dem Zweiten Weltkrieg. Sie hat nicht nur eine erstaunlich lange Zeit regiert, sondern mit den von ihr durchgesetzten Richtungsentscheidungen die Messlatten gelegt, an denen sich die Regierungsfähigkeit jeder konkurrierenden Partei entscheidet.

STANDARD: An welche denken Sie?

Lammert: Soziale Marktwirtschaft, Bekenntnis zur Bundeswehr, Nato-Mitgliedschaft, Westintegration, Europäische Union, Euro. Eine Partei, die in Deutschland mehrheitsfähig sein will, muss sich zu diesen Prinzipien bekennen. Den spektakulärsten Wandel haben die Grünen durchgemacht, die zunächst fast überall in Frontalopposition waren. Das bedeutet also für die Union: Sie hat sich mit allen ihren Alleinstellungsmerkmalen durchgesetzt. Zum Preis, dass Unterscheidbarkeit verloren gegangen ist. Wir müssen jetzt also neu verdeutlichen, was wir uns auf all diesen Themenfeldern angesichts aktueller Herausforderungen – ob Digitalisierung, Globalisierung oder Klimawandel – vorstellen. (Birgit Baumann, 21.1.2022)