Als sich die Erde nach dem Ende der letzten Kaltzeit allmählich zu erwärmen begann, wurde es in einigen Regionen plötzlich wieder kalt. Vor 8.200 Jahren sanken vor allem in Mittel-, Nord- und Westeuropa die Temperaturen binnen weniger Jahrzehnte um durchschnittlich etwa zwei Grad Celsius. Klimahistoriker kennen die Abkühlung als Misox-Schwankung. Ihre Ursache liegt ironischerweise in den letzten Zuckungen der ausgehenden Eiszeit, als der Laurentidische Eisschild auseinanderfiel.

Der Golfstrom fällt aus

Bei diesem Ereignis brachen natürliche Dämme, und in kurzer Zeit ergossen sich gewaltige Mengen von Süßwasser in den Nordatlantik, was das Meer stark verdünnte. Der verringerte Salzgehalt stoppt schließlich den Nordatlantikstrom, die nördliche Verlängerung des Golfstroms – schon damals eine wichtige Wärmepumpe für das Klima Nordwesteuropas.

Das bedeutete unter anderem für die in Europa lebenden Menschen eine spürbare Verschlechterung des Klimas. Wissenschafter sind davon überzeugt, dass sich die Abkühlung nicht nur in Sedimenten und Eisbohrkernen nachweisen lässt, sondern auch in den sozialen Gepflogenheiten der damaligen nordeuropäischen Bevölkerung – gleichsam nach dem Motto: Bei Kälte rückt man enger zusammen.

Kurz nach dem Ende der letzten Kaltzeit verschlechterte sich das Klima in Teilen Europas plötzlich wieder.
Foto: imago images/Richard Moran

Hunderte Jäger-und-Sammler-Gräber

Ein geradezu idealer Ort, um dieser Annahme zu überprüfen, liegt auf einer Insel im russischen Onegasee. Auf Yuzhniy Oleniy Ostrov rund 350 Kilometer nordöstlich von St. Petersburg wurden vor über 8.000 Jahren hunderte Menschen beigesetzt. Der Fundort zählt zu den größten bekannten mesolithischen Friedhöfen Europas, ein Forschungsteam um Rick Schulting von der Oxford University hat ihn nun mit modernen Analysemethoden unter die Lupe genommen. Vor allem hoffte man, von den Gräbern auf Reaktionen auf die Abkühlung im sozialen Gefüge der damaligen Jäger-Sammler-Gesellschaften schließen zu können.

Die Bestattungsstätte in einem Steinbruch beherbergte ursprünglich bis zu 400 Gräber. In den 1930er-Jahren waren 177 davon freigelegt worden. Da die Gräber jeweils sehr verschieden mit Beigaben ausgestattet waren, gibt es Diskussion darüber, ob es sich um eine eher egalitäre Gesellschaft gehandelt oder ob es große soziale Unterschiede gegeben hat. Auch die zeitliche Einordnungen waren unklar. Bisher hatte man angenommen, dass das Gräberfeld rund 800 Jahre lang genutzt wurde.

Deutlich kürzer genutzt

Auf Grundlage neuer Datierungsmethoden stellten die Forschenden nun fest, dass fast alle Gräber über einen Zeitraum von 100 bis 300 Jahren angelegt worden waren, und zwar etwa zwischen 8.300 und 8.000 Jahren. Die Wissenschafter gingen daher davon aus, dass sich allein die Zahl der Gräber in einem verhältnismäßig kurzen Zeitraum als Folge der Misox-Schwankung sehen lässt.

Die Klimaveränderungen könnten die Gegend um den See als Siedlungsplatz noch attraktiver gemacht haben, da sich dort vermutlich relativ viel Wild befand und die Fischgründe im See reichhaltig waren. Andere kleine Wasserflächen in der Region scheinen aufgrund des langen Zufrierens kaum mehr Fisch beherbergt haben, der zweitgrößte See Europas hingegen schon. Dazu komme, dass die in der Kaltzeit etwas wärmeren Sommer mit weniger Niederschlägen die Waldbrandgefahr erhöhten. All das machte es den Wissenschaftern zufolge für die Jäger-Sammler-Gruppen attraktiv, sich an den Ufern des Sees aufzuhalten, der wahrscheinlich ein um einiges günstigeres Mikroklima als die Umgebung hatte.

Zusammengerückt

Die gefundenen Überreste von Menschen und Tieren deuten tatsächlich darauf hin, dass die Menschen an dem offenbar relativ lebenswerten Ort quasi zusammenrückten. Da sonst in der Region aus der Altsteinzeit nur kleine Bestattungsplätze bekannt sind, sei der große Friedhof als neue Entwicklung anzusehen, schreiben die Wissenschafter im Fachjournal "Nature Ecology & Evolution". Sie sehen die Stätte auch als Hinweis, dass Gruppen damit signalisieren wollten, dass sie gewissermaßen im Besitz des Zuganges zu den dortigen Ressourcen sind.

Dass sich mehrere Gruppen versammelten, wurde bereits vermutet, da sich im nördlichen Teil des Gräberfeldes mehr Bildnisse von Elchen, im südlichen mehr Bildnisse von Schlangen und Menschen fanden. Auch die Steinartefakte zeigen eine für die Region ungewöhnliche Vielfalt, die sich auch in DNA-Analysen der Überreste widerspiegelt.

Mehr Streit und Hierarchien

Es sei davon auszugehen, dass der wichtige Zugang zu den Fischgründen auch zu sozialen Spannungen führte, weil sich die Jäger-Sammler-Gruppen nicht wie sonst üblich aus dem Weg gehen konnten. Dass es durch den Klimastress auch zu stärker hierarchisch organisierten Gemeinschaften gekommen sein dürfte, zeigen manche Gräber mit sehr viele Beigaben.

Die "Komplexität" in der Gesellschaft, die sich dort einst zeigte, war jedenfalls "auf die Situation abgestimmt und umkehrbar", meinen die Wissenschafter. Nachdem sich der Golfstrom binnen hundert Jahren vom Süßwasserschock erholen konnte und die Temperaturen wieder zu steigen begannen, wurde auch die Stätte kaum mehr genützt. In den dann wärmeren Wintern dürften die verschiedenen Gruppen wieder zur alten, verstreuten und mobileren Lebensweise zurückgekehrt sein. (tberg, red, APA, 28.1.2022)