Politischen Einfluss auf den ORF habe es immer gegeben, ein entpolitisierter öffentlich-rechtlicher Rundfunk sei eine Illusion. Dass politische Gängelung eh nicht funktioniert, zeige die Tatsache, dass ORF-Journalistinnen und -Journalisten maßgeblich daran beteiligt waren, die geheimen Koalitions-Sideletter der ÖVP mit FPÖ und Grünen aufzudecken. Auch solche Sätze liest man derzeit in sozialen Netzwerken.

Wer so argumentiert, blendet aus, dass das, was man bisher vermutet hat und nun dokumentiert vorfindet, eine Katastrophe für den öffentlich-rechtlichen Journalismus in Österreich ist. Spätestens jetzt muss allen klar sein: So kann es nicht weitergehen. Das größte Medienunternehmen dieses Landes, dessen Unabhängigkeit verfassungsrechtlich festgeschrieben ist, das "allen Österreicherinnen und Österreichern gehört", wie der Redakteursrat des ORF empört in seinem Protestbrief schreibt, muss aus dem Würgegriff der Politik befreit werden.

Das größte Medienunternehmen dieses Landes, dessen Unabhängigkeit verfassungsrechtlich festgeschrieben ist, muss aus dem Würgegriff der Politik befreit werden.
Foto: imago images/SEPA.Media

Nicht zuletzt die Corona-Pandemie und die ÖVP-Turbulenzen rund um die Chats des Thomas Schmid haben gezeigt, wie wichtig wissensbasierter, objektiv nachforschender Journalismus ist. Es galt und gilt, Fakten von Fake-News zu unterscheiden, das Tun der Mächtigen zu hinterfragen. Information, recherchiert nach bestem Wissen und Gewissen. Journalistinnen und Journalisten in Printmedien und im ORF leisten das täglich. Sie haben nicht verdient, Spielball parteipolitischer Interessen zu sein.

Toxische Arbeitsatmosphäre

Im ORF ist das jedoch offenbar Usus. Von der Wahl des Generaldirektors über den Vorsitz im Stiftungsrat bis hin zur Besetzung von Chefredaktionen wurde und wird offenbar alles am Verhandlungstisch im Bundeskanzleramt ausgedealt. Wer im ORF etwas werden will, muss sich irgendwie arrangieren. Es zählt nicht viel, eine gute Journalistin, ein exzellenter Rechercheur oder eine fähige Teamleiterin zu sein – die Betreffenden müssen sich gefallen lassen, einer Partei zugeordnet zu werden. Deklarierte "Nullgruppler" haben es schwer.

Das erzeugt nicht nur eine toxische Arbeitsatmosphäre. Der politische Griff auf die Redaktionen des ORF verursacht dort eine Schere im Kopf. Führende Journalistinnen und Journalisten sind häufig damit beschäftigt, auszugleichen, zu beschwichtigen, ihre Teams zu schützen – statt (angst)frei arbeiten zu können.

Der ORF selbst muss das größte Interesse haben, sich aus diesem Würgegriff zu befreien. Er müsste, ähnlich wie der Schweizer Rundfunk, als die rechtspopulistische SVP die Gebühren abschaffen wollte, für sich werben. Er muss viel offensiver als bisher erklären, warum seine Unabhängigkeit demokratiepolitisch wichtig ist. Die ORF-Verantwortlichen sollten selbst ein Volksbegehren pro Unabhängigkeit anstrengen, wie es es einst, 1964, Hugo Portisch initiiert und der spätere Generalintendant Gerd Bacher unterstützt hatte.

Den Parteien ist jedenfalls nicht zu trauen. Ihre "Freundeskreise" im Stiftungsrat haben nachlesbar bewiesen: Sie sind die Feinde unabhängigen Journalismus. (Petra Stuiber, 1.2.2022)