Marchetti als Ein-Mann-Betrieb und auch Founder und Managing Director von One Eight Zero.

Foto: Michael Marchetti

Wochenlang hatte ich gewartet. Mich gefragt, ob das gutgehen kann: der inneren Stimme vertrauen, während man vom AMS-Bezug lebt und sich weigert, den Stempel "arbeitslos" zu akzeptieren. Innere Arbeit traf es eher, und herauszufinden, wohin der Weg gehen soll, war schwierig genug. Aber die Stimme schwieg. Dafür wurde das Raunen der anderen lauter. Als ich vor einem Jahr an dieser Stelle über meinen Abschied vom Fliegen schrieb, prophezeiten mir einige Leser den Abrutsch in die Langzeitarbeitslosigkeit.

Als Flugkapitän, der hingeworfen hatte, sei ich mit Ende 40 unvermittelbar. Irgendwann, warnte einer, würde das Geld nicht mal mehr für den Sprit zum Wochenendausflug ins Skigebiet reichen. Ich verkaufte mein Auto. Es fühlte sich erstaunlich gut an. In der Stadt fuhr ich ab nun mit meiner 17 Jahre alten Vespa, investierte in meine erste Öffi-Jahreskarte und wurde zum Bahnreisenden.

Die Stimme schwieg weiter. Bis zu einem Telefonat am 11. Jänner 2021. Am anderen Ende der Leitung saß Jens Hollmann, ein deutscher Transformationsforscher und Coach, den ich von einer Einladung zum Podcast Ich Wir Alle kannte, und sprach mit mir über die Idee, die Skills von Piloten in anderen Branchen einzusetzen.

Mut zum Neubeginn

Anfangs klang das trocken, aber dann zündete ein Funke. Es ging hier nicht nur um Skills, sondern auch um den Mut zu einem Neubeginn. Der fehle vielen, meinte Jens. Sich zu lösen von Kindheitsträumen und der Identifikation mit Uniformen und Rollenbildern, damit Neues entstehen kann, wo der alte Weg zur Sackgasse wird. Als ich auflegte, wusste ich: Genau das ist es! Und die innere Stimme? Ein klares Ja.

Eine Woche später baue ich meine eigene Website, kostenschonend um 70 Euro, kaufe ein Microsoft-Office-Paket mit einem Postfach und finde einen Namen, der gleichzeitig Programm ist: "We transform pilots!" Anfangs ist es ein 90-Minuten-Workshop, den ich gemeinsam mit Jens anbiete. Meine beiden Töchter helfen mir, einen Flyer zu entwerfen, und posten ihn. Und dann: die ersten Anmeldungen!

Die Reportage im ALBUM schlägt Wellen: Auftritte im deutschen und österreichischen Fernsehen, in Podcasts, Artikel in Zeitschriften. Die Augenringe auf den Aufnahmen aus dieser Zeit verraten etwas über den Galopp, in dem es dahingeht. Meine Frau, die anfangs zwischen Unterstützung und Skepsis schwankt, sorgt für die Bodenhaftung: "Ich weiß nicht – was hast du eigentlich gemacht, außer gekündigt?", wundert sie sich über das Interesse der Medien.

Meine Eltern finden, ich solle "ein bisschen freundlicher dreinschauen" im Fernsehen. "Du blickst immer so nach oben, wenn du nachdenkst." Ein paar Wochen dauert der Warhol’sche Hype, dann holen mich Zweifel ein. Habe ich das Zeug zum Unternehmer? Buchhaltung und Businessplan, Gewerbeschein und Überbrückungskredit. Bin das wirklich ich?

Ich treffe eine Entscheidung: Ein Jahr lang, bis Februar 2022, nehme ich mir vor, folge ich meiner Vision, will sehen, wohin sie mich führt, und alles dafür geben, selbst mit dem Risiko, dass es ein Bauchfleck wird. Ich will es wissen.

Eine Idee, die Kraft hat

Und gleichzeitig keiner von jenen werden, die dauernd kämpfen müssen, tricksen, andere herabsetzen, sich ständig beweisen. Ich hatte als Pilot Milliardäre an Bord, die ganz unruhig wurden, wenn der Privatjet eines "Geschäftsfreundes" neben uns die Start-up-Clearance als Erster erhielt.

Es ist Zeit für andere Weltbilder: Kooperation statt Konkurrenz. Vertrauen und Respekt. Win the heart, before you ask for a hand. Dafür gehe ich ins Rennen. Naiv? Vor einem Jahr war ich nicht sicher, heute weiß ich es. Niemals wäre ich so weit gekommen, hätten nicht andere, mitunter sehr einflussreiche Menschen, großzügig ihre Zeit, ihr Wissen, ihre Kontakte, ihre Freundlichkeit geteilt – ganz ohne Honorarnote.

In die neue Rolle zu finden ist eine eigene Herausforderung: Founder und Managing Director schreibe ich in meine erste E-Mail-Signatur, was, zugegeben, lachhaft klingt bei einem Ein-Mann-Unternehmen, das von AMS-Bezügen lebt. Aber alle fangen mal an. Mein erster Mitarbeiter bin ich selbst.

Stürze mich arbeitslos in Arbeit, 14- bis 16-Stunden-Tage werden normal, keine Wochenenden, und natürlich geht das schief, weil man nicht auf Dauer an der eigenen Substanz nagen kann, ohne das zu spüren. Aber man fühlt sich irgendwie auch wichtig dabei, und gleich noch wichtiger, sobald die ersten Lebensläufe und Bewerbungen ungefragt im Mail-Account landen.

Und der Zufall, der mitspielt

Es ist die Idee, die Kraft hat. Und der Zufall, der mitspielt. Ein Bekannter gibt mir den Kontakt eines Unternehmensberaters und Coach weiter: "Ihr könntet geschäftlich zusammenpassen", sagt er. Es stellt sich heraus: Vor Jahrzehnten waren wir schon einmal Arbeitskollegen.

Niki unterstützt mich bald, wo er kann, aber unsere Zusammenarbeit bedeutet auch ein Ringen zwischen unterschiedlichen Standpunkten und Lebenserfahrungen. Wo ich aufs Tempo drücke, will er es wissenschaftlich wasserdicht, wo ich pragmatisch handle, stellt er Dinge infrage.

Auch den Namen "We transform pilots!", der eigentlich eine Anmaßung sei. "Transformieren kann sich jeder nur selbst", sagt er. Einatmen. Ausatmen. Ja eh. Wir raufen uns zusammen, gemeinsam tüfteln wir an einem Viermonatsprogramm, bereiten Präsentationen vor, lassen Folder und Visitenkarten drucken, kontaktieren die ersten Airlines. Ich schnüre Packages, baue Module, berechne Umläufe und Overheadkosten, und sehe mich im Geiste abwechselnd als Millionär und Retter zehntausender verzweifelter Piloten.

Das Feedback von mehreren Airline-Managern: "Großartig! Ihr seid auf einem genialen Weg!", hören wir. Aber zahlen will keiner. Nach sechs Monaten stehen wir mit dem Rücken zur Wand. Und brauchen eine zündende Idee.

Bodenwellen des Lebens

Inzwischen rattere ich mit voller Wucht über die Bodenwellen des Lebens. Ein Bandscheibenvorfall inklusive. Die Konsequenz sind Schmerzmittel und spezielles Training mehrmals die Woche. Ich bin überfordert. An manchen Tagen schaffe ich es gerade vom Frühstückstisch zum Sofa und schlafe dort wieder ein.

Sich aufzuraffen und weiterzumachen kostet so viel Kraft, dass ich mir schwöre: So etwas mache ich genau nur einmal im Leben. Auf dem Esstisch stapeln sich jeden Tag aufs Neue Bücher, Akten und Laptop, das Abendessen wird neben dem Zoom-Call kalt.

Das Glücklichsein – weit in die Zukunft gerutscht. Meine Frau will nicht den "permanenten Ausnahmezustand", und gleichzeitig müssen wir uns eingestehen, dass die für uns neue Zweisamkeit auch ihre Tücken hat. Einmal knalle ich nach einem Streit mit solcher Wucht die Tür hinter mir zu, dass auf beiden Seiten die Beschläge runterfallen. In der Nacht träume ich vom Fliegen und Unbeschwertheit.

Neues Leben von der Stange

Immer wieder melden sich Pilotenkollegen, darunter frühere Bekannte, von denen ich dachte, sie würden alles tun für den Platz im Cockpit. Jetzt wollen sie aufhören. Das Phänomen deckt sich mit Zahlen aus den USA und Großbritannien, wo die freiwilligen Kündigungen im Sommer 2021 in die Höhe schießen, besonders in der Gastronomie, bei den technischen und den Pflegeberufen.

"The great resignation" tauften Wissenschafter das Phänomen, noch nie haben in den USA mehr Menschen gleichzeitig gekündigt. Die Karriereplattform Linkedin verzeichnet um ein Viertel mehr Jobwechsel als vor der Pandemie, allein in meinem Netzwerk haben 70 Kontakte ihren Beruf gewechselt.

Einige, die mich anrufen und sich nach unserem Angebot erkundigen, wollen Sicherheit, ein Pilotengehalt und den neuen Job ums Eck. Ein Transformationsprogramm, bei dem man nichts riskieren muss und nur gewinnen kann, ein neues Leben von der Stange, und sie hoffen, dass wir es ihnen verkaufen. Leider nein. Veränderung und Unsicherheit gehören zusammen, man kann Letztere überspielen, aber nicht überspringen.

Veränderung und Unsicherheit

Mir geht es nicht anders: In den Meetings, die im Laufe des Jahres mehr und größer werden, gilt es, einen Weg zu finden zwischen zuhören und ein Machtwort sprechen, nachdenken und entscheiden. Anfangs sitzen wir zum Brainstormen noch zu viert bei Kaffee im Garten, im Herbst sind es dreimal so viele Teilnehmer, und ein Assistent macht Notizen für das Protokoll.

Am Ende bin ich es, bei dem sich die Augenpaare treffen und der sagen soll, wie wir es machen. Rechtliche Fragen, Marketingstrategien, Interviewpartner, Designentwürfe, Finanzpläne, Mitarbeiter, Kundenkontakte, Präsentationen. Auch als Kapitän muss man Entscheidungen treffen, aber diesmal gibt es keine Checklist und keine Dutytimes, an die ich mich halten kann, kein Flugzeug, das an der Destination abgestellt wird, Tür zu, Schluss für heute.

Manchmal genieße ich das, manchmal wird es zur Last. Statt der Uniform trage ich Hemd und Sakko, wenn ich bei Terminen den CEO gebe, auf der Bühne des Lebens. Lasse Experten aus Spanien und Deutschland einfliegen für die Produktion unseres Programms, treffe den Glücksminister von Bhutan in Lausanne zum Interview und sitze drei Tage später wieder beim AMS-Termin, als Teilnehmer eines Unternehmensgründungsprogramms. Offiziell immer noch arbeitslos, aber mit einer 60-Stunden-Woche.

Nicht förderungswürdig

Im April noch hat meine Beraterin dort die Geschäftsidee als nicht förderungswürdig und wirtschaftlich unausgegoren eingestuft. Ende Mai rutsche ich in den Notstand. Über die Monate überarbeiten wir das Konzept, richten Fokus-Gruppen ein und beginnen mit der Entwicklung eines Online-Programms. Bis Jahresende entwickelt es sich zu einer virtuellen Reise um den Erdball, mit dutzenden Stationen, Tasks und Treffen in beiden Welten. Das Ziel: der passende neue Beruf.

Nach wochenlanger Quälerei durch zwei Förderanträge erhalten wir grünes Licht – und knapp 100.000 Euro Finanzierung. Damit können wir auch die Mitarbeit von Universitätsprofessoren aus drei Staaten sichern. Europas Gewerkschaften zeigen Interesse, ein großes Unternehmen möchte mit uns kooperieren, und meine Frau ist am Ende auch mit im Team. Wir können jetzt vor dem Einschlafen auch über Geschäftliches reden, wenn wir möchten.

180-Grad-Wende

Ein Start-up-Experte vom Imperial College in London hört sich unsere Geschäftsidee an und bewertet sie nach genauer Analyse mit 2,5 Millionen Euro. Als ich die Geschichte Fritz, einem meiner besten Freunde seit Schultagen, an der Bar unseres Stammlokals erzähle, verschluckt er sich fast am Bier. "Sofort verkaufen!", ruft er. Gute Idee, aber der Wert existiert nur auf dem Papier. Wir haben unser Programm noch nicht einmal gestartet.

Neun von zehn Start-ups, so die Faustregel, scheitern. Und wir? Haben einen Rebranding-Prozess zu Jahresbeginn hinter uns und einen neuen Namen. One Eight Zero, so heißt die Firma jetzt, steht für eine 180-Grad-Wende und berufliche Neuorientierung.

Noch im Februar ist der große Produktlaunch geplant, das Ende des Countdowns nach einem Jahr Arbeit. Das fühlt sich in etwa so an wie ein Elfmeterschießen beim EM-Finale in Wembley. Das Stadion bis zum letzten Platz gefüllt. Der Ball auf dem Rasen glänzt im Scheinwerferlicht. Blick auf das Tor, noch einmal auslockern. Ausatmen. Alles vergessen. Der Pfiff des Schiedsrichters. Dann Stille. Ich lege alles, was ich habe, in diesen Schuss. Ob es ein Treffer wird? Der britische Dichter T. S. Eliot sagte es so: "For us, there is only the trying. The rest is not our business." (Michael Marchetti, ALBUM, 6.2.2022)