Der Begriff stammt von Günther Ogris vom Sora-Institut, führend in der Politikanalyse auf der Basis von Umfragen: das große "Systemmisstrauen".

Dieses Phänomen ist schon länger zu beobachten – auf den Straßen bei unermüdlichen "Querdenker"-Demos, in den Onlineforen der sozialen Medien und des STANDARD und an der Wahlurne. Eine scheinbare Nur-Impfgegner-Partei wie die MFG ("Menschen. Freiheit. Grundrechte") bringt es aus dem Stand bei regionalen Wahlen in Oberösterreich, im niederösterreichischen Waidhofen/Ybbs auf beachtliche Ergebnisse, käme aber nach derzeitigem Umfragestand auch in den Nationalrat. Davon gleich mehr.

Demonstration gegen die Corona-Maßnahmen in Wien.
Foto: imago images/SEPA.Media

Aber die tiefe Systemverdrossenheit drückt sich auch in Umfragen aus, wonach fast 60 Prozent der Bevölkerung mit der derzeitigen Politik – Corona, aber nicht nur – unzufrieden sind und sich diffus etwas anderes erwarten. Alternativen, die in früheren Jahren gangbar schienen – entweder zur SPÖ, in den letzten Jahren viel häufiger zur FPÖ –, scheinen nun verbaut, weil die Sozialdemokraten zu hilflos und die Kickl-FPÖ zu bizarr erscheint. Davon profitiert die MFG, deren Wähler überwiegend von enttäuschten Christkonservativen bzw. Nationalpopulisten (Freiheitlichen) kommen.

Wobei die MFG keine reine "Anti-Impf-Partei" ist, wenn man sie sich näher ansieht. Die darunterliegende Programmatik zielt auf einen grundsätzlichen Umbau des Systems der repräsentativen Demokratie ab – mehr Plebiszite, Ersatz der "Berufspolitiker" durch "Fachleute", Abschaffung der Kammern. Da ihre Vertreter zum Großteil Honoratioren – Rechtsanwälte, Ärzte – sind und das Impfthema im Vordergrund steht, bleibt dieser systemstürzende Ansatz nahezu unbeachtet.

Antirationalität und Antiwissenschaftlichkeit

Das Aufkommen solcher systemkritischer Parteien hat auch etwas damit zu tun, dass die Alternative, die sich bis zuletzt anbot, nämlich die nationalpopulistischen Parteien in ganz Europa, ihre Anhänger enttäuscht hat. Wo sie an der Regierung und an der Macht beteiligt wurden, wie die FPÖ in Österreich oder die Lega in Italien, haben sie versagt. Ihre Anhänger wenden sich nun teilweise Neugründungen zu, um ihren Protest loszuwerden.

Problematisch erscheint auf jeden Fall die Unterströmung von Staats- und Demokratiefeindlichkeit, aber auch von Antirationalität, Antiwissenschaftlichkeit, die all das begleitet. Wer die Slogans auf den Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen analysiert, kommt auf einen wilden Mix von glattem Neonazi-Gedankengut, christlich-fundamentalistischem Obskurantismus (etwa mit Verweisen auf den 666-Vers der Apokalypse), esoterischer Trance. Vor allem aber auf den Begriff Freiheit. Gegen Letzteren ließe sich wenig sagen, würde er nicht ganz überwiegend im Sinn eines grenzenlosen Egoismus verstanden: "Es ist meine Sache, ob ich mich anstecke, es interessiert mich nicht, ob ich andere anstecke."

In letzter Zeit wird auch stark das Gefühl spürbar, nach einer großen "Wende" würde dann mit den Vertretern des Establishments, auch mit den "gekauften" Journalisten "abgerechnet". Entsprechende Drohungen finden sich zuhauf in den E-Mail-Postkästen von Politikern, Wissenschaftern und Journalisten.

Extremisten dieser Art bilden eine relativ kleine, aber nicht zu vernachlässigende Gruppe. Sie finden auch Anhänger, die "Auswüchse" zwar ablehnen, aber meinen, die "haben doch irgendwie recht". Das wird auch nach dem Abflauen von Corona nicht weggehen.

Teil zwei dieser Kolumne wird sich damit beschäftigen, was man gegen das "große Systemmisstrauen" tun könnte. (Hans Rauscher, 4.2.2022)