Illustration: STANDARD / Fatih Aydogdu

Toleranz ist ein unverzichtbarer Grundwert jeder bestehenden Demokratie, eine grundsätzliche Haltung im gesellschaftlichen Leben." Der Ethiker Johann Platzer von der Karl-Franzens-Universität Graz klingt recht bestimmt, wenn es um den Respekt vor dem Selbstbestimmungsrecht der Anderen geht. Theoretisch dürfe man daher Menschen, die sich noch nicht gegen das Coronavirus impfen ließen, nicht verurteilen.

"Es gibt doch unterschiedliche Gründe dafür, warum der Mensch eine Impfung verweigert oder vor ihr zurückschreckt. Nicht jeder erzählt Unsinn über Mikrochips, die mit der Impfung implantiert würden. Angst, fehlende Informationen zählen sicher auch zu den Ursachen für derartige Blockaden."

Toleranz und Diktatur

Praktisch dürfte es aber allen aufgeklärten Menschen, die sich impfen ließen, schwerfallen, tolerant gegenüber Gegenpositionen zu sein. Die Corona-Impfung sei ein erstes wirkungsvolles Mittel, um einen schweren Krankheitsverlauf zu verhindern. Was zwei sehr wünschenswerte Konsequenzen habe: Eine Überlastung des Gesundheitssystems werde genauso verhindert wie die ungehinderte Entwicklung neuer, gefährlicher Mutanten des Virus. Nach über zwei Jahren Pandemie wolle man dem Kreislauf aus ansteigenden Zahlen, Lockdowns und Einbrüchen in der Weltwirtschaft endlich ein Ende setzen. 5,7 Millionen Menschen sollen laut offiziellen Zahlen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) mit oder an Corona verstorben sein.

Für Platzer ist es somit nur logisch, dass Toleranz nicht uneingeschränkt bestehen kann. Er bezieht sich dabei auf den Philosophen Karl Popper, der sinngemäß gemeint habe, uneingeschränkte Toleranz gegenüber Intoleranten führe mit Notwendigkeit zum Verschwinden der Toleranz. Deshalb forderte Popper die Verteidigung der toleranten Gesellschaft gegen Angriffe von Intoleranten.

Vereinfacht gesagt: Wer mit Intoleranten mitläuft und sich gegen ihre Ansichten nicht wehrt, bereitet den Boden für Staatsformen, die sich niemand wünschen kann. Umgelegt auf die heutige Diskussion zeigt Platzer Verständnis für die, die mit radikalen Impfgegnern, die jeden rationalen Diskurs verweigern, nicht mehr reden wollen. Wer angesichts der Anti-Corona-Maßnahmen und der Impfung "‚Diktatur!‘ skandiert, bedenkt nicht, dass er genau das in einer Diktatur nicht rufen könnte", sagt er.

Aber warum hat es überhaupt zu derart starren Ansichten hinsichtlich der Pandemiebekämpfung kommen können, wie sie Woche für Woche bei Demonstrationen verbreitet werden? Platzer meint, die Gesellschaft bestehe schon einigen Jahrzehnten aus höchst "unterschiedlichen Wahrheitswelten". Die unreflektierte Nutzung von Privat-TV und Social-Media-Kanälen habe zweifelnde User und Userinnen teils sehr weit weg vom Boden der Tatsachen gebracht.

Der Trend habe schon lange vor der Wahl des Unternehmers Donald Trump zum US-Präsidenten eingesetzt, als diverse Social-Media-Plattformen gezielt für die Verbreitung manipulativer, falscher Nachrichten genutzt wurden. In der Politik habe man derlei Aktivitäten schon immer kritisch beobachtet, aber zu lange nichts dagegen unternommen.

Wirre Wahrheitssuche

Martin Weiß, Philosoph und Wissenschaftsforscher an der Universität Klagenfurt, sieht das Grundproblem ganz ähnlich: "Es gibt keinen gemeinsamen Kanon", sagt er. In der Diskussion prallen daher völlig unterschiedliche Welten aufeinander. Während die Impfbefürworter überzeugt sind, dass Ärzte, Virologen und Epidemiologen mit ihren Einschätzungen recht haben, sprechen Impfgegner von angeblichen schlechten Erfahrungen von Menschen aus ihrem erweiterten Bekanntenkreis und von Informationen, die Anti-Vaxxer über diverse Informationskanäle verbreiten.

Weiß sieht da eine Vertrauenskrise, man würde heutzutage mehr denn je Expertenmeinungen hinterfragen und nach einer geheimnisvollen, dahinterstehenden Wahrheit suchen. "Das ist erstaunlich, denn wenn an meinem Auto ein Problem auftritt, suche ich auch nicht nach einer Lösung im Internet, sondern vertraue den Mechanikern."

Überraschenderweise suchen die Zweifelnden nach sehr weit hergeholten, komplexen Erklärungsversuchen für Corona. Ihnen antwortet Weiß mit Ockhams Rasiermesser, einem sehr alten wissenschaftstheoretischen Ansatz. Er besagt, dass jene Hypothese die wahrscheinlichste ist, die am einfachsten ist.

"Wer angesichts der Impfung ‚Diktatur!‘ skandiert, bedenkt nicht, dass er das in einer Diktatur nicht rufen könnte." Ethiker Johann Platzer

Weiß versucht, die Theorie mit einfachen Beispielen zu erklären: "Ich kann, wenn mein Auto nicht fährt, schon daran glauben, dass jemand am Motor manipuliert hat. Die einfachste und wahrscheinlichste Erklärung ist aber eine andere: ein Schaden, den ein Mechaniker wahrscheinlich in Kürze erkannt und dann relativ rasch repariert hat."

Und was wäre ein Beispiel für Ockhams Rasiermesser in Bezug auf die Pandemie? "Theoretisch kann das Virus ausgesetzt worden sein, um Menschen zu töten, die Welt in eine Krise zu stürzen, die Erklärung, dass das Virus auf einem Wildtiermarkt unglücklicherweise vom Tier kam, ist wesentlich einfacher und schon allein deshalb wahrscheinlicher."

Wie kann man die Vertrauenskrise beheben? Weiß sagt, in der Berichterstattung habe es einen Wandel gegeben. Noch nie zuvor wurden in zentralen Nachrichtenformaten der TV-Anstalten so viele Expertenmeinungen aus den Bereich Infektiologie, Virologie oder Epidemiologie gesendet, noch nie haben Forschende auch so offen über eigene Fehleinschätzungen gesprochen.

Kein Richtig oder Falsch

"Wissenschaft ist eine Annäherung an die Wirklichkeit, nicht die Verkündung absoluter Wahrheit", sagt der Philosoph. Es gebe kein Richtig oder Falsch, es gebe nur Annahmen, die auch falsifiziert werden könnten. Wissenschaftsforscher Weiß: "Wir haben nun die Chance zu zeigen, wie Wissenschaft funktioniert, und offen über Fehleinschätzungen zu diskutieren." Genau das sollte das Vertrauen in Expertenmeinungen wieder möglich machen. (Peter Illetschko, 13.2.2022)