Die Probleme unserer Zeit werden oft ausschließlich dem Kapitalismus zugeschrieben. So einfach sei das aber nicht, sagt der Historiker und Autor Rainer Zitelmann. Seine Aussagen und Einordnungen provozieren freilich Kritik.

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Wien – Dem Kapitalismus wird viel Negatives zugeschrieben: Ausbeutung, Ressourcenvergeudung, Klimawandel. Aber ist es wirklich so einfach, den Kapitalismus für alle Probleme verantwortlich zu machen? Die Zerstörung der Umwelt, der Verlust an Werten, die aufgehende Schere zwischen Arm und Reich – alles nur eine Folge des Profitdenkens? "Viele dieser Vorwürfe lassen sich leicht widerlegen, wenn man sich die Zahlen genau anschaut", sagt der Autor Rainer Zitelmann. In seinem aktuellen Buch Die zehn Irrtümer der Anti-Kapitalisten nimmt der Historiker die populärsten Meinungen über den Kapitalismus unter die Lupe.

Dass der Kapitalismus für Hunger und Armut verantwortlich ist, wird pauschal gerne gesagt. "Doch bevor der Kapitalismus entstand, lebten die meisten Menschen auf der Welt in extremer Armut", sagt Zitelmann. Seinen Recherchen zufolge betrug 1820 die Quote der absoluten Armut (wird daran gemessen, ob jemand einen bestimmten Warenkorb erwerben kann) noch 90 Prozent. Heute ist die Quote auf unter zehn Prozent gesunken.

Das Bemerkenswerte für Zitelmann ist dabei, dass "in den vergangenen Jahrzehnten, seit dem Ende der sozialistischen Planwirtschaft in China und anderen Ländern, sich der Rückgang der Armut so stark beschleunigt hat wie in keiner Phase der Menschheitsgeschichte zuvor". In den 1980er-Jahren etwa lebten 88 Prozent der Chinesen in Armut, heute sind es laut der Weltbank nur noch ein Prozent.

Ein Blick zurück hilft

Um den Kapitalismus zu verstehen, müsse man weit in die Geschichte zurückblicken. Das würden Kritiker oft aber zu wenig tun, wirft ihnen Zitelmann vor. Habe man die längere Tendenz im Blick, seien auch andere Entwicklungen erfreulich, etwa die Kinderarbeit, die in den vergangenen Jahrzehnten deutlich abgenommen habe. Im Jahr 2000 arbeiteten weltweit 246 Millionen Kinder, im Jahr 2020 waren es laut Zitelmanns Buch noch 160 Millionen. Das heiße freilich nicht, dass damit das Thema Kinderarbeit erledigt sei, aber man müsse auch anerkennen, dass die Entwicklung in die richtige Richtung gehe. Das sei laut Zitelmann oft der wunde Punkt in den Theorien der Antikapitalisten: "Sie stimmen nicht mit den historischen Fakten überein, sondern nur mit unseren Vorurteilen über die Welt."

Rainer Zitelmann: "Bevor der Kapitalismus entstand, lebten die meisten Menschen auf der Welt in extremer Armut."
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Doch wie sieht es bei Umweltschutz und Klimawandel aus? Gerade jetzt, wo die EU mit der Taxonomie Kapital in grüne Investments umleiten will, scheint ein Zusammenhang mit dem Kapitalismus doch auf der Hand zu liegen. Nun, ganz so einfach ist die Rechnung laut Zitelmann auch hier nicht. Klar, wenn ein Land beginne, sich zu industrialisieren, sei die damit einhergehende Umweltverschmutzung erstmals oft groß. Die Gleichung, dass mehr Wachstum automatisch zu mehr Ressourcenverbrauch führt, verortet Zitelmann aber in den 1970er-Jahren. "Denken Sie nur mal daran, welche Geräte viele von uns früher hatten – Fax, Telefon, Taschenrechner, Videokamera, Digitalkamera, Platten/CDs, Bücher ... all das vereint jetzt das Smartphone." In Summe würde das den Ressourcenverbrauch einschränken.

Schutz der Umwelt kostet

Vergleiche man das Ranking der Länder mit den höchsten Umweltstandards (Environmental Performance Index, EPI, der Uni Yale) mit dem Kapitalismus-Index, zeigt sich ein anderer Zusammenhang als jener, den Kapitalismuskritiker gerne in den Raum stellen.

Demnach sind Dänemark, Luxemburg, die Schweiz, Großbritannien und Frankreich die Länder mit den besten Umweltbedingungen. Es folgen Österreich, Finnland, Schweden, Norwegen und Deutschland – also alles Länder, die als kapitalistisch gelten. "Eine der durchgängigen Lehren des EPI ist, dass Nachhaltigkeit ausreichenden wirtschaftlichen Wohlstand erfordert, um öffentliche Gesundheit und Umweltinfrastruktur zu finanzieren", schreibt Zitelmann.

Der Fehler der Antikapitalisten sei, dass sie immer das reale System, in dem wir leben, mit dem Ideal einer perfekten Welt vergleichen, die es jedoch nirgendwo gibt oder gab. "Sie setzen zudem darauf, dass die Menschen wenig über Geschichte wissen und darüber, in welch ärmlichen und menschenunwürdigen Verhältnissen unsere Vorfahren lebten, bevor der Kapitalismus entstand", sagt Zitelmann.

Provokation?

Dass seine Aussagen als Provokation aufgefasst werden können, ist dem Historiker nicht nur klar, sondern auch recht. Offene Debatten wünscht sich Zitelmann ebenso wie ein Denken in größeren Zusammenhängen. Denn nur durch den Einsatz von Windrädern werde man auch die Energiewende nicht schaffen.

Um zu ergründen, wie die Menschen zum Kapitalismus stehen, hat Zitelmann eine Umfrage in 14 Ländern (Asien, Europa, USA) durchgeführt und 34 Aussagen bei 14.672 Menschen abgefragt. Es zeigt sich, dass in Polen, USA, Südkorea und Japan die Menschen den Kapitalismus am positivsten sehen. In Österreich, Deutschland, Spanien und Frankreich überwiegt die antikapitalistische Einstellung.

Die Macht des K-Wortes

Die Umfrage zeigt auch, dass die Zustimmung zum Kapitalismus oft steigt, wenn das K-Wort in der Fragestellung nicht verwendet wird. Das war etwa in Polen, den USA und Deutschland so. "Man kann sagen, dass die Menschen tendenziell eher von dem Wort abgestoßen sind als davon, was der Kapitalismus inhaltlich bedeutet", sagt Zitelmann. Dass in Österreich die Kritik so groß ist, überrascht den Autor, wo mit der Österreichischen Schule der Ökonomie quasi die geistige Mutter des Kapitalismus hierzulande verankert sei.

In Österreich sagen 42 Prozent der Befragten, dass der Kapitalismus von den Reichen dominiert ist, die auch die Politik bestimmen. 41 Prozent sagen, dass Egoismus und Profitgier gefördert werden, 39 Prozent sehen in diesem Wirtschaftssystem den Grund für eine steigende Ungleichheit. 31 Prozent geben an, dass der Kapitalismus schuld sei an Umweltzerstörung und Klimawandel. Nur zwölf Prozent sagen, dass der Kapitalismus in vielen Ländern die Lage der einfachen Leute verbessert habe.

Negative Effekte vergessen

"Viele Menschen sagen, dass es ihnen nicht schlecht geht, aber sie vergessen oft, warum es ihnen gutgeht", sagt Zitelmann. Je länger Phasen wie der Sozialismus etwa in der DDR zurückliegen, desto mehr würden die Menschen die negativen Effekte vergessen.

Die These, "Kapitalismus bedeutet wirtschaftliche Freiheit", erzielte in Japan und Korea die größte Zustimmung (Platz eins). In Deutschland schaffte es diese Aussage nur auf Platz zehn, in Brasilien, Frankreich, Spanien, Großbritannien, Italien, Österreich und der Schweiz dagegen nicht einmal unter die Top Ten von 18 Plätzen.

Dabei zeigt der "Index of Economic Freedom" der Heritage Foundation, dass die am meisten kapitalistischen Länder im Durchschnitt ein Bruttosozialprodukt pro Kopf von 71.576 Dollar haben. Bei den überwiegend freien Ländern sind es noch 47.706 Dollar. Am anderen Ende rangieren die überwiegend unfreien und die gänzlich unfreien Länder, wo das Bruttosozialprodukt pro Kopf nur 6.834 bzw. 7.163 Dollar beträgt. (Bettina Pfluger, 21.2.2022)