Berlin ändert seinen Kurs in der Verteidigungspolitik hin zu einer massiven Aufrüstung.

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Berlin – Als Reaktion auf die russische Invasion in der Ukraine vollzieht Deutschland eine Kehrtwende seiner Außen- und Sicherheitspolitik. Nachdem am Samstag verkündet wurde, dass Deutschland nun doch deutsche Waffenexport – auch über Drittstaaten – an die Ukraine genehmigt, wurde am Sonntag auch eine massive Aufrüstung Deutschlands bekannt.

Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) kündigte in einer Sondersitzung im Bundestag einen massiven Ausbau der Streitkräfte durch ein "Sondervermögen Bundeswehr" an und will dafür auch das Grundgesetz ändern. "Der Bundeshaushalt 2022 wird dieses Sondervermögen einmalig mit 100 Milliarden Euro ausstatten", sagte er in einer Regierungserklärung.

Die Mittel sollten für Investitionen und Rüstungsvorhaben genutzt werden. "Wir werden von nun an – Jahr für Jahr – mehr als zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts in unsere Verteidigung investieren", kündigte Scholz an. "Wir tun dies auch für uns, für unsere eigene Sicherheit."

"Wir erleben eine Zeitenwende"

Scholz sprach von einem historischen Einschnitt. "Wir erleben eine Zeitenwende", sagte der Kanzler in der emotionalen Debatte in der Sondersitzung. Das bedeutet: Die Welt danach ist nicht mehr dieselbe wie die Welt davor." Im Kern gehe es um die Frage, ob Macht das Recht brechen dürfe und ob es Russlands Präsidenten Wladimir Putin gestattet werden könne, die Uhren in die Zeit der Großmächte des 19. Jahrhunderts zurückzudrehen. "Oder ob wir die Kraft aufbringen, Kriegstreibern wie Putin Grenzen zu setzen", betonte Scholz. Der Kanzler bekräftigte, mit dem Überfall auf die Ukraine habe Putin kaltblütig einen Angriffskrieg vom Zaun gebrochen. Dies geschehe aus einem einzigen Grund: "Die Freiheit der Ukrainerinnen und Ukrainer stellt sein eigenes Unterdrückungsregime infrage. Das ist menschenverachtend. Das ist völkerrechtswidrig. Das ist durch nichts und niemanden zu rechtfertigen."

Die Abgeordneten aller Fraktionen bis auf die AfD erhoben sich, um denjenigen Russen zu applaudieren, die in ihrer Heimat den Krieg kritisierten und den ukrainischen Botschafter Andreij Melnyk stellvertretend für die mehr als 40 Millionen Ukrainer zu begrüßen.

Merz bietet Scholz Hilfe an

Scholz und andere Redner warfen Putin vor, mit dem Angriff auf die Ukraine in eklatanter Weise Völkerrecht verletzt zu haben. Viele Redner machten Putin persönlich für den Krieg verantwortlich. Scholz nannte ihn einen Kriegstreiber, CDU-Chef Friedrich Merz einen Kriegsverbrecher. Zudem sagte Merz der Regierung seine Unterstützung für die Sanktionen gegen Russland zu. Die Union werde umfassende Maßnahmen unterstützen "und nicht im Kleinen herummäkeln".

Bisher hatte die Ampel-Regierung eine massive Aufstockung des Wehretats abgelehnt und im Koalitionsvertrag ein Bekenntnis zur Selbstverpflichtung der Nato-Staaten vermieden, zwei Prozent der Wirtschaftsleistung für Sicherheit auszugeben. Scholz betonte nun, dass der russische Angriff ein Zäsur bedeute. Wichtig sei, dass Europa auch technologisch mithalte und die nächste Generation von Kampfflugzeugen und Panzern gemeinsam mit europäischen Partnern wie Frankreich baue. "Diese Projekte haben oberste Priorität für uns", betonte der Kanzler.

Bau von zwei LNG-Terminals

Für die sogenannte nukleare Teilhabe werde die Regierung rechtzeitig einen modernen Ersatz für die veralteten Tornado-Jets beschaffen. Bis die Flugzeuge, die US-Atomwaffen im Konfliktfall ins Ziel bringen können, einsatzbereit seien, werde der Eurofighter weiterentwickelt. Scholz legte sich damit nicht fest, welches Flugzeug Deutschland als Tornado-Nachfolge beschaffen wird. Der Eurofighter solle zur elektronischen Kriegsführung befähigt werden. "Das Kampfflugzeug F-35 kommt als Trägerflugzeug in Betracht", sagte er lediglich.

Um die Abhängigkeit von russischem Erdgas zu verringern, sollen schnell zwei Terminals für Flüssigerdgas (LNG) in Deutschland gebaut werden, wie Scholz auch ankündigte. Er nannte als Standorte Brunsbüttel und Wilhelmshaven. Außerdem solle eine Kohle- und Gasreserve aufgebaut werden.

Nun doch Waffenexporte

Die deutsche Bundesregierung hatte am Samstag eine Kehrtwende vollzogen und will nun Waffen aus Bundeswehrbeständen an die Ukraine liefern. Sie genehmigte, dass einerseits 1000 Panzerabwehrwaffen und 500 Luftabwehrraketen an Kiew übergeben werden. Zudem erlaubte Berlin der Niederlande 400 Panzerfäuste, die sie aus Deutschland erhalten hatte, an die Ukraine zu liefern. Auch Estland bekam grünes Licht für die Lieferung von Artilleriegeschützen aus DDR-Beständen.

Bislang hatte Deutschland die Lieferung von Waffen an die Ukraine abgelehnt – mit Verweis auf die blutige Geschichte Nazi-Deutschlands und die Gesetzeslage, die Waffenexporte in Krisengebiete verbietet. Auf welcher Rechtsgrundlage Deutschland nun die Abwehrraketen in die Ukraine liefert ist unklar.

Es ist allerdings keineswegs das erste Mal, dass Berlin den Export deutscher Waffen in ein Kriegsgebiet genehmigt: Beim Vormarsch der IS-Milizen im Irak im Jahr 2014 lieferte die Deutschland bereits Waffen und Ausrüstung an die kurdischen Peschmerga. Begründet wurde die Genehmigung damit, eine humanitäre Katastrophe und die Vernichtung der Volksgruppe der Jesiden verhindern zu wollen. Zudem seien mittelbar auch deutsche Sicherheitsinteressen betroffen.

Selenskyj dankt

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj bedankte sich indes für die Bildung einer internationalen "Koalition" zur Unterstützung seines Landes und erste Waffenlieferungen. "Wir erhalten Waffen, Medikamente, Lebensmittel, Treibstoff, Geld", sagte Selenskyj in einem Video, das am Sonntag in den Online-Netzwerken verbreitet wurde. "Eine starke internationale Koalition hat sich gebildet, um die Ukraine zu unterstützen, eine Anti-Kriegs-Koalition", fügte Selenskyj hinzu.

Konkret begrüßte der ukrainische Präsident Waffenlieferungen aus Deutschland und Belgien und den Beschluss westlicher Verbündeter, russische Banken aus dem internationalen Zahlungssystem Swift auszuschließen.

Selenskyj dankte in seinem Video auch dem polnischen Präsidenten Andrzej Duda, der sich für einen EU-Beitritt der Ukraine ausgesprochen hatte. Selenskyj forderte zudem die internationale Gemeinschaft auf, Moskau sein Stimmrecht im UN-Sicherheitsrat zu entziehen. Er verwies auf "kriminelle Handlungen" Russlands gegen die Ukraine, "die Merkmale eines Völkermords" aufwiesen.

Waffenunterstützung

Neben Deutschland kündigten auch andere westliche Staaten eine stärkere militärische Unterstützung der Ukraine an. So teilte der Elysée-Palast am Samstag nach einer Sitzung des Verteidigungsrates mit, dass Frankreich mehr militärische Ausrüstung und Kraftstoff geliefert werden soll. Details wurden nicht genannt.

Die Niederlande wollen 200 Stinger-Flugabwehrraketen liefern, Belgien 2.000 Maschinengewehre. Die US-Regierung kündigte an, der Ukraine bis zu 350 Millionen US-Dollar zur "sofortigen Unterstützung der Verteidigung" zur Verfügung zu stellen. Die neue Lieferung soll auch Panzerabwehrlenkwaffen vom Typ Javelin umfassen. Rumänien kündigte an dem Nachbarland Ukraine umgehend Munition, schusssichere Westen, Militärhelme, sonstige militärische Ausrüstung, Treibstoff, Wasser, Lebensmittel, Arzneimittel sowie medizinische Hilfsgüter zukommen zu lassen.

Auch aus dem baltischen EU- und Nato-Land Litauen erhielt die Ukraine weitere Militärhilfe. "Litauische Truppen beendeten ihre logistische Operation vor Mitternacht und lieferten Waffen, Munition, Helme und gepanzerte Westen", schrieb der litauische Verteidigungsminister Arvydas Anusauskas am Sonntag auf Twitter. Nach seinen Angaben sendeten insgesamt 13 NATO-Staaten der Ukraine bereits militärische Hilfe in Form von Waffen, Munition und Flug- und Panzerabwehrraketen. Litauen hatte zuvor bereits in den USA hergestellte Stinger-Flugabwehrraketen in die Ukraine geliefert. (red, APA, 27.2.2022)