Die Ukraine geht uns doch nichts an, war in Österreich vielfach zu hören, als im November 2013 die Euromaidan-Proteste begannen. Es war die Bürgerbewegung in einem fremden Land, weit weg von uns, bis uns irgendwann bewusst wurde, dass die ukrainische Grenze näher zu uns liegt, als Bregenz von Wien entfernt ist.

Das war für viele überraschend, geändert hat das an der Einschätzung hierzulande nichts, auch nicht als Putin sich gewaltsam die Krim aneignete und die Ostukraine zu destabilisieren begann. Im Gegenteil, während die EU deutlich auf Distanz ging, rollte Österreich den roten Teppich aus. Wenige Wochen nach der Annexion der Krim wurde Putin von der heimischen Politik und Wirtschaft hofiert. Von Sanktionen, ließ Bundespräsident Fischer wissen, halte er nichts: "Davon kann niemand profitieren."

Bei uns macht man eben lieber immer noch einen Knicks, als eine Meinung zu haben. Dafür wird dann wieder unsere angebliche Brückenfunktion beschworen, und es werden die bekannten Phrasen bemüht: "Unser Land steht für Dialog" usw. Wirtschaftskammerpräsident Leitl erlaubte sich damals sogar eine humorvolle Spitze – seinen Hinweis, dass "die Ukraine" vor hundert Jahren ein Teil Österreichs war, quittierte Putin mit einem Lächeln: "Was wollen Sie mir damit sagen?"

Ein politisches Engagement für die Ukraine in Österreich ist sehr jung.
Foto: Imago / SEPA.Media / Isabelle Ouvrard

Ja, was eigentlich? Zum einen war es nur der westliche Teil der heutigen Ukraine, das östliche Galizien. Zum anderen: Nie hat sich seit dem Zusammenbruch der österreichisch-ungarischen Monarchie jemand aus Wirtschaft und Politik dafür interessiert. Dabei macht kaum ein westliches Land so viele Geschäfte in und mit Osteuropa, nur ist offenbar niemandem bewusst, dass das einmal Teil unserer Geschichte war, ein geistiger Raum, der mit den heutigen Grenzen wenig zu tun hat.

In der Ukraine geboren

Wie weit er einmal reichte, wurde mir vor einigen Jahren wieder deutlich, als ich auf dem jüdischen Friedhof in Berlin-Weißensee zufällig das Grab von Karl Emil Franzos entdeckte. Der Nachfahre aus Spanien vertriebener Sepharden, geboren 1848 in einem podolischen Dorf, könnte heute von gleich mehreren Nationen beansprucht werden.

Franzos wuchs in der damals habsburgischen, später polnischen, heute ukrainischen Stadt Tschortkiw auf. Das Gymnasium besuchte er in Czernowitz (später rumänisch, heute ukrainisch), zum Studieren ging er nach Wien. Dort wurde er zum gefragten Reisejournalisten, beschrieb in Romanen und Novellen, vor allem aber in seinen Kulturbildern Aus Halb-Asien eindringlich die galizische Welt, machte sich als Herausgeber von Büchners Werken und als Übersetzer einen Namen – er übersetzte Gogol ebenso wie ukrainische Volkslieder –, und er war Freund und Berater des Kronprinzen, dem er auch bei der Herausgabe des enzyklopädischen Monumentalwerks Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild zur Hand ging.

Der Galizien-Band, 1898 erschienen, ist einer der umfangreichsten des Kronprinzenwerks, er dokumentiert eine heute exotisch anmutende Welt, umso mehr, als sie in den Gewaltexzessen des 20. Jahrhunderts weitgehend zerstört wurde.

Aus ihr hat die deutschsprachige und man kann ruhig sagen österreichische Literatur unverzichtbare Impulse erfahren: Joseph Roth, Bruno Schulz, Józef Wittlin, Manès Sperber, Rose Ausländer, Paul Celan, Gregor von Rezzori und viele andere mehr. Sie alle eint, dass sie in der heutigen Ukraine geboren und in diesem damals so vielschichtigen Kulturraum geprägt wurden.

So arm dieses österreichisch-polnisch-ukrainische Galizien war, sein kultureller Reichtum scheint uns heute sagenhaft. Dabei geht es nicht um Verklärung. Wenn Joseph Roth eine seiner Reisereportagen mit dem Satz begann: "Das Land hat in Westeuropa einen üblen Ruf", dann brachte er das, wofür Galizien stand – das Armenhaus der Monarchie –, geradezu schmerzlich auf den Punkt. Aber: "es hat mehr Kultur, als seine mangelhafte Kanalisation vermuten läßt; viel Unordnung und noch mehr Seltsamkeit. (...) es hat eine eigene Lust, eigene Lieder, eigene Menschen und einen eigenen Glanz; den traurigen Glanz der Geschmähten."

Eine europäische Geschichte

Diese Zeilen aus dem Jahr 1924 ließen sich auch in Bezug auf die gegenwärtige Ukraine verstehen. Ein Land, das alles andere als wohlhabend ist, aber seit seiner Unabhängigkeit vor dreißig Jahren beharrlich und über viele Widerstände hinweg den Weg der Modernisierung geht, wirtschaftlich, politisch, und das heißt in Richtung Demokratie, in Richtung Europa.

Man darf dabei nicht übersehen, dass die ukrainische Geschichte immer schon eine europäische war, staatliche Verbindungen mit Polen, Litauen und für fast 150 Jahre auch mit Österreich haben den westlichen Teil des Landes kulturell geprägt, die brutale Russifizierungspolitik des Zarenreichs und später der Sowjetunion hat immer nur oberflächlich gewirkt.

Im Blick der Geschichte mag erstaunen, wie die Ukraine selbst deutschen Vernichtungskrieg und Stalinismus überleben konnte. Aber das hat den Westen leider nur wenig interessiert, gerade auch Österreich, das für die westlichen Ukrainer einst das Tor in die Welt war.

Es waren uns nicht nur die europäischen Zusammenhänge verlorengegangen, mit der Teilhabe an einem weiteren verlorenen Weltkrieg und der Errichtung des Eisernen Vorhangs war die österreichische Welt noch enger, noch mehr auf sich bezogen und noch selbstgefälliger geworden. Im Kitsch der Sissi-Filme ging das eigentliche Geschichtsbewusstsein verloren, Ischl war uns romantischer als das fern und fremd gewordene Lemberg.

In eine untergegangene Welt

Der Erste, der die Tür in diesen Raum wieder aufgestoßen hat, war der Autor Martin Pollack. Mit seiner imaginären Reise Nach Galizien führte er 1984 in eine untergegangene Welt, die man allein schon deswegen nicht bereisen konnte, weil das kommunistische Russland die Grenzen geschlossen hielt.

Nach 1989 aber begann plötzlich ein Nostalgietourismus in die Westukraine, für den Pollacks Buch, das gar keine Nostalgie beschwören wollte, zur Blaupause wurde. Der in Lemberg/ Lwiw lebende Essayist Jurko Prochasko schrieb einmal, dass ihm auf der Straße immer wieder vor allem deutsche Touristen auffallen, weil sie sich mit Pollacks Galizien-Buch in der Hand zu orientieren versuchen – obwohl darin das alte Galizien, nicht die heutige Westukraine beschrieben ist!

Aber so wirkt Geschichte, wirkt Kultur nach, könnte man meinen. Doch warum sieht man das hierzulande nicht? Warum tut man sich bei uns so leicht damit, Putin zu "verstehen" und das, was einmal Teil unserer Kultur war, beharrlich zu ignorieren?

Dabei hat ukrainische Identität viel mit Österreich zu tun. Während die ukrainische Literatur im zaristischen Russland verboten war, konnte sie sich im Habsburgerreich, dem angeblichen Völkerkerker, entfalten und sogar hier den Grundstein zur späteren Nationswerdung legen. Der ukrainische Nationaldichter Iwan Franko (1856–1916), der heute für das Selbstverständnis einer ukrainischen Nation steht, hat nicht zufällig in Wien sein Slawistikstudium beendet.

Kreuzungspunkte

Von all diesen Kreuzungspunkten haben wir heute keine Ahnung, obwohl es auch unsere Geschichte ist. Wir haben sie vergessen, entsorgt. Und mit dem, was seit 2014 in der Ostukraine geschieht, wollten wir erst recht nichts zu tun haben. Allzu lange haben wir uns den Konflikt aus der geschützten Komfortzone angeschaut, haben uns noch vor einer Woche lediglich Sorgen um unsere Gasversorgung gemacht und darüber, ob die Benzinpreise noch weiter steigen werden.

Erst seit Putin wahrgemacht hat, was wir uns nicht vorstellen wollten, werden wir uns dessen bewusst, das geht auch uns an, und angesichts der Gewaltspirale, angesichts erschütternder Nachrichten und verzweifelter Hilferufe ("Don’t let us die!") dämmert uns langsam, dass in der Ukraine womöglich auch unsere Freiheit verteidigt wird.

Aber was heißt das schon? Vergangenes Wochenende wurde in Wien unter dem Motto "Freedom for Europe" demonstriert – es ging aber nicht um die Ukraine, sondern um die staatlichen Corona-Maßnahmen, die uns angeblich zu unfreien Menschen machen.

Vielleicht sollte man es bei denen, die ernsthaft glauben, sie würden hier in einer Diktatur leben, mit einem Witz versuchen, den mir Chrystyna Nazarkewytsch, Dozentin am Institut für Fremdsprachen in Lemberg, vor wenigen Tagen in einer E-Mail schrieb: Ein ukrainischer Straßenhund beschließt eines Tages, nach Russland zu gehen, weil das Leben in der Ukraine scheiße ist. Doch es dauert nicht lange, kommt er wieder zurück. Die Grenzposten sind verwundert. "Tja", sagt der Hund, "das Leben in Russland ist auch scheiße, aber in der Ukraine kann ich bellen!"

Perspektive zurechtgerückt

Der Witz könnte tiefgründiger nicht sein: "Wir Ukrainer", so Nazarkewytsch, "schätzen unsere Freiheit und Individualität über alles, und das ist unser größter Unterschied zu den Russen, mit denen man uns jahrelang hartnäckig verwechselt oder gleichgestellt hat." Immerhin hat Putins Krieg die Perspektive zurechtgerückt, mittlerweile kann man sich in Brüssel vorstellen, die Ukraine endlich in die Europäische Union aufzunehmen.

Ausgerechnet die österreichische Bundesregierung gibt sich dazu "bedeckt" und reagiert "zurückhaltend", wie das in der Diplomatensprache heißt. Dabei könnte man sich an anderen EU-Staaten ein Beispiel nehmen: Noch vor dem russischen Einmarsch verkündete das nicht gerade wohlhabende Rumänien, 500.000 Flüchtlinge aufnehmen zu wollen. Aus Österreich hat man tagelang nichts vernommen.

Es sind aber nicht nur diese verspäteten, oft nur halbherzigen Reaktionen. Was wissen wir überhaupt von der Ukraine? Jetzt, da es vielleicht schon zu spät ist. 2018 erschien Serhij Zhadans Roman Internat, eine geradezu gespenstisch-absurde Schilderung des kriegerischen Konflikts in der Ostukraine, einer namenlosen Gewalt, die nur zerstört. Irgendwann wird beteuert: "Wir hatten (...) ein Land. Ein normales Land. Nicht das schlechteste." Zhadan, 1974 im Gebiet von Luhansk geboren, lebt in der gegenwärtig schwer umkämpften Stadt Charkiw. Die letzte Nachricht von ihm kam vor vier Tagen. (Gerhard Zeillinger, ALBUM, 5.3.2022)