Menschen gehen weltweit gegen den Krieg Putins auf die Straße, von Bolivien bis Sri Lanka. Hier ein Protestzug in Rom am 3. März 2022.

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Seit Wladimir Putin vor wenigen Tagen den größten europäischen Krieg seit dem Zweiten Weltkrieg losgetreten hat, protestieren Vertreterinnen und Vertreter der ukrainischen Diaspora lautstark in den Ländern und Städten der EU. Die Aktivistinnen und Aktivisten schöpfen bei ihren Auftritten aus jener reichhaltigen und dynamischen Protestkultur, mit deren Hilfe die Kreativen des Landes 2005 und 2014 jeweils die Etablierung eines autoritären Regimes verhindert haben.

Obwohl bislang nicht der gesamte Kanon ausgeschöpft wurde, gilt die "Revolution der Würde" von 2013/2014 als zentraler Referenzpunkt der aktuellen Demonstrationen im Ausland. Der Spin verweist zumindest in Österreich aber auch auf eine Dominanz junger Menschen, die mehrheitlich in den letzten Jahren aus der Westukraine zugezogen sind.

Nahezu in Endlosschleife wurde auf Wiens Straßen der ursprünglich aus den 1920er-Jahren stammende Slogan "Slawa Ukrajini! Herojam slawa" ("Ruhm der Ukraine! Den Helden Ruhm!") proklamiert. Die Hälfte verweist auf den ukrainischen Nationaldichter Taras Schewtschenko (1814–1861), der als die große Ikone im ukrainischen Kampf gegen die zaristische Autokratie des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts gilt.

Nationalistischer Beigeschmack passé

Die Demonstrierenden riefen auch die nach dem Ersten Weltkrieg in Anspielung auf die deutsche Nationalhymne formulierten Worte "Ukraine über alles!" sowie das nach dem Zerfall der Sowjetunion zunächst unter ukrainischen Nationalisten verwendete "Ruhm der Nation! Den Feinden Tod!". Zumindest während der "Revolution der Würde" hatte Letzteres gerade in östlichen Landesteilen noch einen gewissen nationalistischen Beigeschmack.

Angesichts des Elends und der Zerstörung, die Putins Angriffskrieg ausgelöst hat, ist diese Rezeption nun passé. Bei Bürgerinnen und Bürgern der Ukraine, die schlichtweg die Eigenstaatlichkeit ihres Landes retten wollen, können diese Sprüche nunmehr als Mainstream gelten.

Weitere Elemente der aktuellen Proteste entstanden 2013 und 2014: Zu "Wer nicht springt, ist ein Moskowiter" wurde kollektiv gehüpft, gebrüllt wurde aber auch der nach der Annexion der Krim von ostukrainischen Fußballfans geprägte Kampfruf "Putin – chujlo". Sinngemäß übersetzt wird der russische Präsident damit als Arschloch bezeichnet. Selbst das gemeinsame Absingen von Liedern erwies sich als zentral. Abschließend wurde jeweils die Nationalhymne intoniert, die vom Freiheitskampf eines stolzen Kosakenvolks erzählt.

Wiens ukrainische Diaspora ließ zudem eine Präferenz für die 1994 in Lemberg gegründete Rockgruppe Okean Elsy erkennen, insbesondere für den Song "Ich gebe nicht kampflos auf". Ursprünglich ein Liebeslied, in dem das lyrische Ich deutlich macht, seine Geliebte nicht verlieren zu wollen, scheint sich alles nun auf die traditionell gerne als junge Frau dargestellte Ukraine zu beziehen.

"Scheiß Krieg!"

Nach einem spontanen Kiewer Open-Air-Konzert nur zwei Tage vor Kriegsbeginn hat sich der charismatische Frontman der betreffenden Band, Swjatoslaw Wakartschuk, am Mittwoch mit einem Video aus dem umkämpften Charkiw gemeldet: "Ihr könnt Bomben auf unsere Plätze werfen, aber ihr werdet nie unseren Geist und unsere Freiheit zerbomben", wetterte er.

Relevant waren zuletzt natürlich aktuelle Sujets. Abgesehen von Slogans wie "Kein Krieg" und sinngemäß "Scheiß Krieg", beides wird auch von Gegnern des Putin-Regimes in Russland verwendet, wurde auf eine Kriegsepisode im Schwarzen Meer verwiesen.

Nachdem ein russisches Kriegsschiff am ersten Kriegstag ukrainische Grenzer von der unbewohnten Schlangeninsel zur Aufgabe aufgefordert hatte, wurde – sinngemäß und auf Russisch – mit "Russisches Kriegsschiff, geh scheißen!" geantwortet. Den Beschuss, der darauf folgte, soll niemand überlebt haben.

Informationswiderstand

Dieser Slogan sowie dessen zahlreiche Modifikationen spielten in der letzten Woche aber für die Propaganda im Kriegsgebiet eine Rolle, wo sie affichiert wurden. Im ganzen Land und im Exil produziert die Kreativwirtschaft Slogans, Plakate und Videos, die sich verwenden lassen. Für diesen Informationswiderstand existiere keine Zentrale, alles erinnere an Partisanenaktionen, sagte der Leiter des staatlichen Zentrums für strategische Kommunikation, Ihor Solowej, im Telefonat mit dem STANDARD.

Es laufe ein Großer Ukrainischer Vaterländischer Krieg, sagte er in Anspielung auf die sowjetische Bezeichnung für den Zweiten Weltkrieg: "Bürger helfen in allen Bereichen dabei, das Land zu retten. Jeder mit seinen Mitteln, selbst mit Smartphones." (Herwig G. Höller, 5.3.2022)