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Empfang am Moskauer Flughafen im April 1955: der russische Außenminister Molotow (Zweiter von links) und der österreichische Bundeskanzler Julius Raab.

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Die Delegationen saßen einander in einem Raum des Kreml gegenüber. Es war der Nachmittag des 12. April 1955. Delegationsführer auf sowjetischer Seite war der langjährige Außenminister Wjatscheslaw Molotow, auf österreichischer Bundeskanzler Julius Raab. Es fing gut an. Von sowjetischer Seite sei alles vorbereitet, um zu einer Lösung in der Frage des Staatsvertrags zu kommen, sagte Molotow.

Raab sagte, was die Sowjets hören wollten: Die österreichische Regierung habe "immer wieder darauf hingewiesen, dass sie sich keinem militärischen Pakt anschließen will". Nach kurzem Hin und Her kam es zu folgendem Austausch (gekürzt zitiert nach dem Standardwerk von Gerald Stourzh Um Einheit und Freiheit):

Molotow: Die Sowjetregierung ist der Meinung, dass die österreichische Regierung eine konkrete Erklärung über die Wahrung der Neutralität und die Nichtzulassung militärischer Basen auf ihrem Gebiet geben könnte.

Raab: Die Erklärung ist im Hauptausschuss (des Nationalrats vom 23. September 1953) gegeben worden und kann im Plenum wiederholt werden, nochmals in ganz feierlicher Form.

Molotow: Es könnte gut sein, hinzuzufügen, dass Österreich die Politik einer Neutralität machen wird.

Raab: Wir werden es uns überlegen und glauben, dass es keine Hindernisse geben wird.

Molotow: Das könnte große Genugtuung für die Sowjetunion sein. Der Sowjetunion schwebt eine Stellung vor, wie sie etwa die Schweiz heute hat.

Raab: Wir werden uns das zu Gemüte führen.

Das war’s. Die Gespräche dauerten vier Tage, aber in dieser ersten Sitzung wurde Österreichs Staatsvertrag de facto erreicht und die Neutralität besiegelt. Es war ein Tauschgeschäft auf der Basis beiderseitiger Interessen. Österreich erreichte das Ende der Besatzung, die Sowjetunion konnte sicher sein, dass Österreich nicht der Nato beitreten und im Gegenteil sogar einen geografischen Keil zwischen den Nato-Ländern Italien und Deutschland bilden würde.

Stille Übereinkunft

Es gab auch eine stille Übereinkunft, wonach Österreich ein demokratisches, rechtsstaatliches System nach westlichem Muster leben könnte – solange es sich nur nicht militärisch und geopolitisch beim "Westen", bei der Nato, einreihen würde.

Hintergrund war der sich schon 1954 abzeichnende Beitritt Westdeutschlands zur Nato (formal am 9.Mai 1955). Die Sowjetunion konnte das nicht verhindern und wollte wenigstens Österreich "draußen" halten. Die Österreicher wollten das Ende der Besatzung und die Erhaltung der staatlichen Einheit. Die Westmächte waren einverstanden.

Wie steht es heute – im Schatten von Putins Krieg – in Europa? Kurz gefasst: Die Neutralität wurde in den Jahrzehnten seither "neu interpretiert", man könnte auch sagen: "ausgehöhlt".

Umgekehrt war der Wert der Neutralität als Schutzfaktor immer relativ. In den 1960er-Jahren kamen sowjetische Pläne ans Licht ("Polarka"), bei einem Angriff auf Jugoslawien durch Ostösterreich zu marschieren. Kanzler Karl Nehammer hat wohl auch recht, wenn er aktuell sagt: "Wer das Völkerrecht missachtet, missachtet auch die Neutralität."

Was darf Österreich?

Was "darf" das neutrale Österreich und was nicht? Der junge Völkerrechtler Ralph Janik hat es in der ZiB 2 mit Armin Wolf heraus gearbeitet: Es besteht keine Pflicht zur "Gesinnungsneutralität", und Österreich darf sich auch an Sanktionen beteiligen, selbst wenn das ein "Wirtschaftskrieg" ist.

Aber Österreich darf direkt keine Waffen an die Ukraine liefern, wie es das "bündnisfreie" (feiner Unterschied) Schweden tut. Ob es ein Neutralitätsverstoß wäre, wenn aus dem EU-Budget, das Österreich mitfinanziert, Waffen gekauft werden, ist laut Janik eine "akademische Debatte". Aber Wladimir Putin könnte vor allem die Wirtschaftssanktionen zu einer realen Debatte machen.

"Waffenlieferungen durch das neutrale Österreich gehen nicht, Wirtschaftssanktionen schon", sagt der Völkerrechtler Ralph Janik.
Foto: Lukas Stifter

Doch zunächst zurück in die Geschichte: Der Staatsvertrag wurde am 15. Mai 1955 unterzeichnet (die Westmächte hatten schon vorher Zustimmung signalisiert). Die Neutralität steht nicht im Staatsvertrag, obwohl viele das glauben. Um die Freiwilligkeit zu unter streichen, wurde sie im Verfassungsrang am 26. Oktober 1955 im Nationalrat beschlossen.

Der VdU (der bald darauf in die FPÖ überging) stimmte dagegen, weil man immer noch an die "deutsche Schicksalsgemeinschaft" glaubte. Kanzler Raab unterstrich in dieser Sitzung den militärischen Charakter der Neutralität, die keine ideologische sei und den Staat, nicht den einzelnen Bürger, verpflichte.

Belastungsproben

Die nächsten Jahrzehnte waren von Belastungsproben der Neutralität gekennzeichnet – und von ihrer allmählichen "Neuinterpretation". Die erste Probe kam gleich 1956 mit dem Aufstand der Ungarn gegen die kommunistische Herrschaft, der mit sowjetischen Panzern niedergewalzt wurde.

Österreich sah beklommen zu, stellte sein embryonales Heer an die Grenze und nahm, zumindest temporär, 180.000 Flüchtlinge auf. Die öffentliche Meinung unterstützte den Aufstand: keine ideologische Neutralität. 1968 das Ganze noch einmal bei der Niederschlagung des Prager Frühlings durch die "kommunistischen Bruderländer".

In den 1960er-Jahren versuchte Österreich dem Vorläufer der EU, der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, beizutreten. Das scheiterte am Widerstand sowohl der Sowjets als auch mancher Westmächte, die damals keine Neutralen dabeihaben wollten.

Neutral auf dem Weg in die EU

Die Haltung der Sowjets änderte sich mit der Amtsübernahme von Michail Gorbatschow. Kanzler Franz Vranitzky und Außenminister Alois Mock, die beide den EU-Beitritt anstrebten, pilgerten nach Moskau und bekamen eine De-facto-Zustimmung. Am 17. Juli 1989 reichte Österreich seinen Beitrittsantrag bei der EU ein. Im selben Sommer aber geschah eine monumentale Zeitenwende: Der "Ostblock" begann einzustürzen.

DER STANDARD

1994 wurden die Verhandlungen in Brüssel erfolgreich abgeschlossen, die Sowjetunion war da schon zerfallen. Als dann die ehemaligen kommunistischen Staaten Osteuropas und ehemalige Sowjetrepubliken, wie die Baltenstaaten, reihenweise in die Nato (und die EU) drängten, um sich gegen Russland abzusichern, versuchte auch der damalige ÖVP-Chef, Vizekanzler und Außenminister Wolfgang Schüssel Ende der 90er-Jahre eine Debatte um einen Nato-Beitritt in Gang zu bringen. Die Neutralität sei eine "alte Schablone" wie die Lipizzaner und die Mozartkugel, argumentierte Schüssel. Ein schwerer Irrtum. Die Österreicher betrachten sie als Teil ihrer Identität.

Doch de facto ist die Neutralität ausgehöhlt, in Richtung eines vorsichtigen Mitmachens. Im ersten Irakkrieg 1991 ließ die Regierung Vranitzky/Mock einen Zug mit US-Panzern durch Tirol nach Italien fahren. Das Zauberwort war "UN-Beschluss". Die UN hatte den Krieg gegen Saddam Husseins Besetzung abgesegnet. Seither gilt in Selbstinterpretation: Neutralität wird durch UN-Beschluss overrult.

Partnerschaft für den Frieden

Ein Zusatz zur Verfassung erlaubt im Rahmen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der EU den Einsatz bei Rettungseinsätzen, Kampfeinsätzen bei der Krisenbewältigung und friedensschaffenden Maßnahmen (Petersberger Aufgaben). 1994 beteiligte sich Österreich an der Partnerschaft für den Frieden, bei der sich Nicht-Nato-Mitglieder unter Führung der Nato an Friedenseinsätzen beteiligen können. Das Bundesheer ist unter diesem Titel im Kosovo Teil der KFOR-Truppe.

Zuletzt erwähnte Verteidigungsministerin Klaudia Tanner eine "schnelle Eingreiftruppe" der EU von 5000 Mann, an der sich Österreich beteiligen könne, die aber noch nicht existiert.

Bis zum Überfall auf die Ukraine glaubten sehr viele österreichische Politiker, Wirtschaftstreibende und Opinion-Leader, Putin sei ein Machtpolitiker, aber ein rationaler, mit dem man leben könne. Er verfolge seine Interessen, wolle aber nicht die europäische Ordnung umstürzen.

Ein Irrtum, der dazu zwingt, alte Gewissheiten zu überdenken. Die Neutralität wurde im Laufe der Jahre stark umdefiniert, aber die Bevölkerung will ganz sicher nicht den Schritt zu einer Nato-Mitgliedschaft. Wie sehr es ins öffentliche Bewusstsein gesickert ist, dass wir an einer "Zeitenwende" leben, und welche Konsequenzen man aus der Tatsache zieht, dass es in Europa wieder eine klare Bedrohung durch Russland gibt, ist die Frage. (Hans Rauscher, 6.3.2022)