Es ist an der Zeit, die immerwährende Selbsttäuschung sein zu lassen, sagt Neos-Gründungsmitglied Veit V. Dengler im Gastkommentar.

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Finnland und Schweden diskutieren einen Beitritt zur Nato. Und Österreich? Braucht das Land einen Schutzschirm?
Foto: Reuters / Yves Herman

Wir erleben gerade den größten Krieg in Europa seit 1945. Während dreier Generationen hatten wir Pause in Europa, das sich an die bitteren Lektionen der Weltkriege erinnerte. Nun aber sind in immer mehr Ländern Hitzköpfe und Diktatoren an der Macht, für die Krieg bloß wieder die Verlängerung der Politik mit anderen Mitteln ist: eine Rückkehr zur traurigen Normalität menschlicher Unfähigkeit.

Dieser Krieg ist ein Kolonialkrieg. Russland will die Ukraine unterjochen und mit Belarus in ein neu-slawisches Großreich eingliedern. Das sieht Putin als seine historische Mission, und er wird nicht ruhen, bis er seinen Willen durchsetzt – oder bis er von seinen Satrapen gestoppt wird. Das ist aus heutiger Sicht leider unwahrscheinlich. In der Zwischenzeit bringt er unermessliches Leid über eines der größten Länder Europas mit 41 Millionen Einwohnern. Ähnliches steht weiteren Ländern bevor, die auf sich allein gestellt sind, so wie Georgien und Moldawien.

Machen wir uns nichts vor: Wladimir Putin wird nicht bei diesen Ländern haltmachen. Er sieht sein Kolonialreich, seine Sowjetunion 2.0 unter russischer Herrschaft, bis in die Mitte Europas reichen, oder sogar bis zum Atlantik. Der Mann denkt groß.

Gefährliche Strategie

Wir können heute der Ukraine nicht genug helfen. Wenn die Nato der Ukraine militärisch zur Hilfe eilte, käme es zu einem großflächigen, vielleicht sogar zu einem Nuklearkrieg. Die Ukraine hat nie den Schutzschild der Nato bekommen; jetzt ist es zu spät. Das birgt eine Lektion, die Österreich aufmerksam studieren muss: Wenn man alleine steht, ist man Aggressoren auch alleine ausgeliefert. In früheren Kriegen konnte man vielleicht als Neutraler verschont werden. Auch dazumal war das eine gefährliche Strategie. Belgien wurde in beiden Weltkriegen angegriffen, trotz Neutralität, und den Niederlanden hat sie 1940 auch nicht genutzt. Die Ukraine hatte die Neutralität bis 2014 in ihrer Verfassung, was Putin nicht daran hinderte, sie anzugreifen und sich die Krim und den halben Donbass einzuverleiben.

"Unsere Beteiligung an Sanktionen hat gezeigt, dass wir nicht neutral sein können und wollen."

Nun mag man entgegnen, dass diese Länder alle an aggressive Großmächte grenzen, wir dagegen von freundlichen EU-Ländern und der Schweiz umgeben sind. Dieses Argument ist kurzsichtig. Die Ukraine ist von Wien aus näher als Vorarlberg, und wir leben in einer vernetzten Welt. Unsere Beteiligung an Sanktionen hat gezeigt, dass wir nicht neutral sein können und wollen. Wir sollen uns auch nicht in Sicherheit wiegen, dass feindliche Mächte, wenn sie mittels Cyberwarfare europäische Krankenhäuser, Kraftwerke oder die Wasserversorgung angreifen, einen Bogen um uns machen. Wir sind eine liberale Demokratie, gehören zum Globalen Westen. Wir müssen die immerwährende Selbsttäuschung, dass wir ein Sonderfall sind, endlich sein lassen.

Neuer Realismus

Es ist Zeit, ein reales Bild unserer Verpflichtungen zu zeichnen. Österreich hat die Neutralität 1955 nicht aus freien Stücken gewählt, sie war eine sowjetische Bedingung für die Unabhängigkeit unseres Landes. Rechtlich haben wir die Neutralität durch unsere unionsrechtlichen Verpflichtungen im Rahmen der Verträge von Maastricht, Nizza, Amsterdam und Lissabon aufgegeben, auch wenn die Politik wider besseres Wissen Werbung mit ihr macht. Man hat das Ende der Neutralität der österreichischen Bevölkerung immer nur sehr verklausuliert kommuniziert. Sie glaubt daher noch an eine "Neutralität", ohne zu wissen, was mit ihr verbunden ist.

"Wir können uns nicht selbst schützen."

Es ist auch Zeit, unsere Verteidigung ernst zu nehmen. Wir können uns nicht selbst schützen, haben nie genug dafür ausgegeben – in der Hoffnung, dass "schon nix passieren wird", und wenn doch, dass uns die Nato dann beschützen würde, wie das sogar unsere Verteidigungsministerin offen zugibt. Der aus der Vernichtung des Zweiten Weltkriegs geborene Frieden ist aber vorbei, die an keine demokratische Rationalität Gebundenen übernehmen wieder. Unsere Demokratien müssen sich wehren können, auch mit konventionellen Kräften am Boden und in der Luft, was wir in Österreich sträflich vernachlässigt haben. Es ist an der Zeit, dass wir das Verteidigungsbudget vervielfachen und verpasste Investitionen (wie in Deutschland) mit einem Einmal-Fonds nachholen.

Neutralität reicht nicht

Und es ist Zeit, die verbliebenen Reste der Neutralität zu beseitigen. Die EU reicht als Schutzgemeinschaft nicht. Ihr fehlen die Fähigkeiten, die es braucht, um eine effektive gemeinsame Verteidigung sicherzustellen. Eines Tages wird das vielleicht anders sein, das wäre auch mir lieber, aber wir können uns nicht aussuchen, in welcher Welt wir heute leben. Das einzige funktionierende Verteidigungsbündnis, historisch ein sehr erfolgreiches, ist die Nato. Sie ist wertebasiert und hat bewiesen, dass sie integriert funktionieren kann. Auch Russland, China und potenzielle andere Aggressoren haben eine Form von Respekt vor der Nato, die sie vor der EU nicht haben.

Schweden und Finnland erwägen zurzeit den Nato-Beitritt. Die schwierigste Entscheidung ist es für Finnland, das schon einmal ganz alleine einen Überlebenskampf gegen die Sowjetunion führen musste, aber weiterhin eine 1300 Kilometer lange Grenze mit Russland hat.

Für uns ist der Zeitpunkt jetzt gekommen. (Veit V. Dengler, 5.3.2022)