Collage des ukrainischen Künstlers Nikita Kadan: "Protection of Plants" (2004), derzeit projiziert im MQ Wien.

Foto: Nikita Kadan

Iryna Tsilyk, Kiew

"Der Krieg ist Putins Agonie"

"Ich bin mit meinem Kind und meiner Katze zu Freunden rund 30 Kilometer außerhalb von Kiew gezogen. Hier ist es aber auch nicht viel sicherer, die Situation verändert sich von Tag zu Tag. Ich bin sehr angespannt, weil mich alle überreden wollen zu fliehen. Aber meine Familie, meine Eltern und Schwester sind in Kiew, und ich möchte sie nicht zurücklassen. Mein Mann, Artem Tschech, ist Schriftsteller und eigentlich nicht militant, jetzt kämpft er in einem Freiwilligenbataillon. Die Stimmung schwankt, heute bin ich wütend: Denn wir brauchen endlich richtige Hilfe von unseren Verbündeten. Wir können zwar bis zum Ende kämpfen, aber wir sind keine Armee der Eisenmänner und -frauen. Ich mag falsch liegen, doch es ist kein Konflikt zwischen Russland und der Ukraine mehr: Es übersteigt bereits das Szenario eines Kalten Krieges. Viele rote Linien wurden durchbrochen, Spitäler und Kindergärten sind, wie man hört, unter Beschuss geraten. In dieser Situation wird das Warten auf reale Aktionen schwierig.

Ich hoffe, man realisiert, dass man es mit Terroristen zu tun hat. Es geht nicht nur um Putin. Es gibt Millionen Menschen, die von seiner Propaganda betroffen sind – sie glauben ihm und unterstützen ihn. Sogar jetzt. Das ist ein Desaster. Dieses wurzelt tief in der Geschichte, denn sowjetische Diktatoren wurden anders als Nazi-Täter nie bestraft. Die neue Generation in Russland wuchs mit der Verklärung der Vergangenheit und des Zweiten Weltkriegs auf, dies ist Teil ihrer Identität und wird von Putin dazu benützt, das russische Imperium wieder aufzubauen.

Selbst die Kulturblase blieb stumm – ich habe das in den letzten Monaten verfolgt. Sogar meine russischen Freunde, die alles durchschauen, äußerten sich nicht. Jetzt gibt es einige offene Briefe und Proteste, aber es ist zu spät, fürchte ich. Und nicht genug. Es ist natürlich unmöglich, in die Zukunft zu schauen, aber für mich sieht es so aus, als wäre dieser Krieg Putins Agonie. Er hat sich verkalkuliert und realisiert bereits, was für einen Riesenfehler er gemacht hat. Er dachte wohl, es würde so einfach gehen wie auf der Krim. Er ist zum Opfer seines eigenen Königreichs der falschen Spiegel geworden. Die Ukrainer haben ihn überrascht, jetzt gleicht er einer Ratte im Eck. Da könnte er alles Mögliche tun, und das macht wirklich Angst. Aber vielleicht wird er ja von jemandem aus den eigenen Reihen beseitigt." (kam)

Iryna Tsilyk ist Filmregisseurin, für "Die Erde ist blau wie eine Orange" gewann sie den Regiepreis des Sundance-Festivals.
Foto: Pavlo_Bagmut via www.imago-images.de

Maja Kleczewska, Warschau

"Befürworte militärisches Eingreifen"

Wir haben jetzt eine Millionen Geflohene in Polen, wie kann man dazu nicht Haltung beziehen? Wir waren sehr froh um die Vertragsauflösungen von Anna Netrebko und Valery Gergiev. Es ist unmöglich, keine Haltung zu diesem Krieg zu haben. Wir erwarten auch klare Haltungen im Sportbereich. Putin bombardiert Städte! Niemand kann das rechtfertigen. Hunderttausende warten derzeit auf ukrainischen Bahnhöfen. Und jetzt sollen die humanitären Korridore in Richtung des Angreifers, nach Russland und Belarus, führen? Das ist ja verrückt: Sie kidnappen die Menschen, oder was?

Die Theater hier arbeiten derzeit mit NGOs zusammen, um Hilfsgüter zu verschicken, Wohn- und Gemeinschaftsräume zu organisieren und um Künstlerinnen und Künstler aus der Ukraine zu evakuieren. Wir haben auch lange überlegt, ob wir die Probenarbeit wieder aufnehmen sollen, und haben uns entschieden: ja. Wir müssen weitermachen. Ich beginne morgen mit den Proben zu Ulysses von James Joyce, aber wir müssen alle Vorbereitungen dazu über Bord werfen, die Realität ist innerhalb von zwölf Tagen eine völlig andere geworden.

Die Ukraine ist als Nation noch stärker geworden. Man dachte immer, der Osten ist mental eher nach Russland hin ausgerichtet, kulturell und sprachlich anders geprägt. Aber das hat sich als Irrtum herausgestellt, auch die Bewohner von Charkiw verteidigen ihr Land mit bloßen Händen.

Ich habe vor einigen Tagen mit geflohenen Studentinnen gesprochen; sie erwarten eine baldige Rückkehr in die Ukraine. Jetzt versuchen wir sie zu motivieren, ihnen ein wenig Polnisch zu lernen und sich auf ein anderes Leben vorzubereiten. Wir hier in Polen sind jedenfalls auf einen Langstreckenlauf eingestellt. Die Welt muss lernen: Es darf nicht sein, dass im 21. Jahrhundert eine Person den halben Globus terrorisiert und so viele Länder unmittelbar in Panik versetzt. Je stärker Putin gebremst wird, umso besser. Insofern befürworte ich einen militärischen Eingriff westlicher Länder, der wäre aus meiner Sicht dringend notwendig. Sonst werden Zivilisten bombardiert.

Dieser Krieg lässt auch das nationale Trauma Polens von den historischen Einverleibungsgelüsten neu erwachen. Diese Angst war und ist immer noch sehr stark – und mehr als gerechtfertigt. Denn wie sich nun herausstellt, haben wir einen extrem gefährlichen Nachbarn, mit dem wir übrigens eine sehr lange Grenze teilen. Und niemand weiß, wozu Putin noch fähig ist. (afze)

Maja Kleczewska ist Theaterregisseurin in Polen. 2017 erhielt sie den Silbernen Löwen der Theaterbiennale Venedig.
Foto: privat

Igor Sydorenko, Zentralukraine

"Die EU hat sich als nutzlos erwiesen"

Als die Invasion begann, war ich in Kiew. Um fünf Uhr in der Früh bin ich durch das Geräusch des Einschlags einer Bombe, 300 Meter von meinem Haus entfernt, aufgeweckt worden. Ich konnte bis zur letzten Minute nicht glauben, dass Putin das tun würde. Trotzdem hatte ich – ich bin ein paranoider Mensch – schon meine Tasche gepackt, genau die Sachen, die ich normalerweise auf Tour mit unserer Band Stoned Jesus mitnehme: Unterwäsche, Jeans, Band-T-Shirts. Gute Freunde und ich sind dann in den Van gestiegen und Richtung Westen gefahren. Jetzt bin ich wie unser Bassspieler auch in der Zentralukraine. Unser Drummer ist in Charkiw, das täglich unter Beschuss steht. Alle paar Stunden versuchen wir, ihn zu kontaktieren.

Alle drei versuchen wir, lokal zu helfen und zu kämpfen: In meinem Fall bedeutet das, den Kampf online zu führen, auf Fake-News aufmerksam zu machen, russische Propaganda zu entlarven und zu informieren. Leider ist niemand aus unserer Band wehrdiensttauglich; ich würde nichts lieber tun, als an der Front zu kämpfen, so wie viele Musiker, die normalerweise in ausverkauften Stadien spielen, das gerade tun. Ich bin stolz auf sie und hoffe, dass sie – nachdem wir das Land wieder aufgebaut haben werden – wieder in ihre eigentliche Berufe zurückkehren können.

Die Russen wollen nicht ehrlich kämpfen, Militär gegen Militär. Weil sie im Bodenkampf nichts taugen, verlagern sie sich auf diese feigen Luftangriffe, die Zivilisten treffen. Es ist unerhört. Wir brauchen Hilfe vom Westen, eine Flugverbotszone, aber der Westen hat zu große Angst vor Russland.

Vor dem Angriff überlegten viele meiner Freunde, in die EU zu ziehen, weil es in der Ukraine nicht so super für sie lief. Jetzt sind sie von der EU enttäuscht, sie hat sich als nutzlos herausgestellt. Sie wollen nun hier bleiben und das Land nach dem Krieg wieder aufbauen. Auch ich werde das Land nicht verlassen.

Die Mainstream-Musikindustrie in der Ukraine hat sehr starke Beziehungen zu Russland, und es gibt einige Leute dort, die uns zu helfen versuchen. Ich denke auch, dass die Verbindungen nach Russland nach dem Krieg bestehen bleiben werden, einfach weil es der größere Markt ist. Aktuell gibt nur weniger russische Musiker, die sich trauen, öffentlich zu protestieren. Gleichzeitig habe ich aber auch noch niemanden gesehen, der den russischen Angriff öffentlich unterstützt hätte. Die Musikszene in der Ukraine verhält sich unglaublich solidarisch. (abs)

Igor Sydorenko ist Sänger und Gitarrist der erfolgreichen Rockband Stoned Jesus, die 2009 in Kiew gegründet wurde.
Foto: Yuri Milchak

Anna Jermolaewa, Wien (geboren in Sankt Petersburg)

"Ich bin gegen einen pauschalen Boykott russischer Künstler"

Während des Aufbaus meiner Ausstellung Chernobyl Safari im Wiener Mak hat sich die Welt verändert. Meine Arbeiten zeigen das ukrainische Tschernobyl, das nach dem Atomreaktorunfall jahrzehntelang ohne menschlichen Einfluss blieb. Die Tiere aber sind dorthin zurückgekehrt, und das Gebiet wurde zu einem wahren Naturparadies. Ende August habe ich dort mehrere Wildkameras aufgestellt. Sie haben diese friedliche Landschaft samt ihren Lebewesen aufgenommen – jetzt filmen sie wahrscheinlich Panzer. Tschernobyl wurde von den Russen schon am Tag eins des Kriegs aus strategischen Gründen eingenommen, es ist der kürzeste Weg nach Kiew.

Ich bin auch privat sehr stark mit der Ukraine verbunden. Neun Jahre lang war ich mit einem Ukrainer verheiratet, meine Tochter ist Halbukrainerin, ich habe Familie dort. Auch beruflich war ich viel in dem Land unterwegs. Wenn ich jetzt die Namen der Städte höre, die ich kenne, bin ich sprachlos.

Am Wochenende fuhr ich an die polnisch-ukrainische Grenze, um Hilfsgüter zu bringen. Die polnischen Behörden haben die Situation gut im Griff, sie versuchen ihr Bestes. Darüber hinaus engagieren sich viele Privatpersonen, die Spenden bringen und Menschen auf der Rückfahrt mitnehmen und in Sicherheit bringen. Wir haben eine Frau nach Wien zu ihrer Familie gebracht. Diese Woche fahren wir wieder hin, um zu helfen.

Hier schließt sich auch ein Kreis für mich: Ich wurde 1970 in Sankt Petersburg geboren und musste als Mitbegründerin der ersten oppositionellen Partei Demokratische Union 1989 selbst über Polen nach Österreich flüchten. Eine Unbekannte hat uns damals aufgenommen, die Reise nach Wien organisiert und finanziert. Jetzt sehe ich die Notwendigkeit, dasselbe zu tun.

Ich versuche, viele Initiativen zu unterstützen und die Aufmerksamkeit für meine Ausstellung im Mak zu nutzen, um Solidarität zu zeigen. Es gibt Editionen meiner Bilder zu kaufen, der Erlös kommt karitativen Zwecken in der Ukraine zugute. Ich möchte mich an dieser Stelle auch gegen einen pauschalen Boykott russischer Künstler und Künstlerinnen aussprechen. Viele kämpfen in Russland, indem sie täglich auf die Antikriegsdemos gehen und so hohe Gefängnisstrafen riskieren. Eigentlich müsste man sie unterstützen. Regimenahe Kunstschaffende zu boykottieren finde ich hingegen ganz richtig. Dass das russische Biennale-Team aus Protest zurückgetreten ist, war großartig. (kr)

Anna Jermolaewa ist bildende Künstlerin, sie floh 1989 aus Russland über Polen nach Wien.
Foto: Scott Clifford Evans

Rytis Zemkauskas, Kaunas (Litauen)

"Im Baltikum war man von der Aggression nicht überrascht"

Meine Geburtsstadt Kaunas in Litauen ist 2022 Europäische Kulturhauptstadt, zu deren Kuratoren ich gehöre. Wegen Putins Aggression werden hier nun zusätzliche Nato-Truppen stationiert, was wir nicht nur als sehr wichtig für die Sicherheit der baltischen Länder, sondern für das Überleben ganz Europas halten. Im Baltikum war man von Putins Aggression nicht überrascht, denn wir haben den Westen bereits sehr lange und eindringlich davor gewarnt. Leider hat man es vielfach vorgezogen, mit seinem Regime gemütlich Wein zu süffeln und Gasdeals einzufädeln.

Dabei war Putin eigentlich immer sehr klar in seiner Vorstellung, dass sich sein Land auf historischer Mission befinde, alle Slawen in einem großrussischen Reich zu einen und dann zu sehen, wie weit er noch gehen könnte. Putin und seine Unterstützer glauben, sie seien auf messianischer Mission, weil sie den Westen für dekadent und – im Einklang mit der russisch-orthodoxen Kirche – für sündhaft und verrottet halten. Und der Westen hat diese Vorstellung befeuert, indem er doppelmoralisch schnelles russisches Geld nur zu gern genommen hat. Die Ukraine hat für sich entschieden, diese politisch-theologische Mission, auf der sich Putin wähnt, nicht mitzumachen, und dafür bestraft er sie nun auf barbarische Art.

Litauen nimmt gerade viele Flüchtende auf, die Menschen haben bereits 17 Millionen Euro gespendet. Für Kaunas 2022 haben wir alle Events, bei denen gefeiert werden sollte, abgesagt und sie durch Solidaritäts-, Diskussions- und Hilfsveranstaltungen für die Ukraine ersetzt. Wir passen das Programm also der Situation entsprechend an.

Den Boykott des Putin-treuen Kultursektors halte ich für richtig, denn Sport und Kultur wurden in Russland immer schon im Sinne des Regimes instrumentalisiert, denken wir an die Dopingskandale oder Konzerte von russischen Künstlern auf der Krim gleich nach deren Annexion. Andererseits wird es nun noch wichtiger werden, regimekritische Intellektuelle und Kulturschaffende im Westen zu unterstützen und ihnen sichere Zufluchtsorte zu bieten.

Die Macht von Wirtschaftssanktionen sollten wir übrigens nicht überschätzen, an Nordkorea sehen wir, dass auch ein isoliertes Land gefährlich bleibt. Europa muss in seiner Haltung zu Putin jetzt endlich erwachsen werden. Es muss stärker und schneller antworten. Man muss auch bereit sein, für den Erhalt der Freiheit Komfort zurückzustellen. (stew)

Rytis Zemkauskas ist Autor, Universitätsprofessor und Kurator für die Kulturhauptstadt Kaunas.
Foto: zemkauskas / Evaldas Virketis

Alhierd Bacharevic und Julia Cimafiejeva, Minsk/Graz

"Belarus und die Ukraine haben einen gemeinsamen Feind"

Wir haben als Ehepaar miteinander viel über die Möglichkeit eines solchen Krieges geredet, aber als es so weit war, war es ein Schock. Belarus ist zum Aufmarschgelände für den Angriff auf die Ukraine geworden – und das ist eine Schande. Aber Belarus und die selbsternannte Regierung von Lukaschenko, die Putin unterstützt, sind nicht das Gleiche. Seit dem Anfang des Krieges protestieren Belarussen gegen die russische Aggression. Wir Belarussen unterstützen diesen Krieg nicht. Mehr als tausend Belarussen wurden in den letzten Tagen nur für die Worte "Kein Krieg!" verhaftet und verurteilt. Belarussen versuchen, russische Militärtransporte zu stören, die durch in die Ukraine fahren. Belarussen spenden Geld für die Ukraine, helfen den Flüchtlingen, sprechen sich öffentlich im Internet gegen diese Aggression aus. Einige belarussische Freiwillige kämpfen auch gegen russische Okkupanten in der Ukraine. Wir und die Ukraine haben einen gemeinsamen Feind – den russischen Imperialismus.

Viele Belarussen verlassen jetzt aber auch unser Land, weil sie Angst haben, in die Ukraine in den Krieg zu müssen. Wir haben viele Freunde in der Ukraine. Wenn wir jetzt ihre Postings lesen, schmerzt das sehr. Belarussen und Ukrainer waren immer brüderliche Nationen, die ukrainische Sprache ist der belarussischen von allen slawischen Sprachen am nächsten. Das Streben der Ukrainerinnen und Ukrainer nach Demokratie war für uns ein Vorbild. Wir haben die Entwicklung gelobt und dachten, sie hätte den richtigen Weg eingeschlagen. Wir träumten davon auch für uns. Viele Belarussen fanden ab den Protesten gegen Lukaschenko auch Zuflucht in der Ukraine. Die westlichen Medien sind unseres Kampfes in Belarus inzwischen leider etwas müde. Sie meinen, die Lage hätte sich normalisiert. Belarus wird nun doppelt okkupiert, von Lukaschenko und russischen Truppen.

Seit unserem Protest gegen Lukaschenko leben wir in Graz. Wir tun, was wir können: Wir demonstrieren mit den Grazern, spenden Geld für die Ukraine, nutzen unsere Stimmen als Autoren in offenen Briefen gegen den Krieg. Er ist nicht nur für die Ukraine eine Katastrophe, er ist das Ende von Osteuropa, wie wir es kennen; vielleicht auch der Art, wie die EU bisher gelebt hat. Die EU hat die Bedrohung durch Putin und Lukaschenko zu lange unterschätzt. Hätte der Westen auf die Situation in Belarus entschlossener reagiert, wäre dieser Krieg unmöglich. (wurm, 10.3.2022)

Alhierd Bacharevic und Julia Cimafiejeva sind Autoren und leben seit 2020 im Exil in Graz.
Foto: Privat