Zwei Tage haben sich die Staats- und Regierungschefs beim EU-Gipfel in Versailles über den Krieg in der Ukraine beraten. Die Hoffnung war nicht sehr groß, dass es gelingen könnte, Russlands Präsident Wladimir Putin vom Krieg abzubringen, erklärte Bundeskanzler Karl Nehammer dem STANDARD unmittelbar nach Ende des Treffens. Wo 1919 nach dem ersten Weltkrieg der Friedensvertrag von Versailles verkündet wurde, vereinbarten die EU-Chefs, zügig eine stärkere EU-Militärpolitik umzusetzen.

Für die Neutralität sei das kein Problem, sagt Nehammer, Österreich werde sich sicherheitspolitisch mehr engagieren, das Bundesheer zur EU ausrichten. Bemerkenswert: Jene EU-Staaten, die zugleich der Nato angehören, hätten deutlich gemacht, dass die Neutralen und Bündnisfreien wegen der EU-Beistandspflicht indirekt auch von der Nato geschützt werden. Das gilt als Warnung an Moskau, das Finnland gedroht hat. Österreich profitiere davon, erklärt Kanzler Nehammer.

STANDARD: Sie haben sich beim EU-Gipfel an einem ganz besonderen Ort zwei Tage lang mit den EU-Regierungschefs über den Ukraine-Krieg beraten. Wie war die Stimmung, wie ist Ihre Einschätzung der Lage?

Nehammer: Präsident Emmanuel Macron hat sich gleich zu Beginn an Olaf Scholz gewandt und daran erinnert, wie geschichtsträchtig dieser Ort für ihre beiden Länder ist, für Frankreich und Deutschland. Und er hat darauf hingewiesen, dass hier aber auch die Grundlage geschaffen wurde für den nächsten Krieg.

STANDARD: Nach dem Ersten Weltkrieg und dem Friedensvertrag von Versailles 1919. Hat er das so formuliert?

Nehammer: Genau so. Es waren sich alle Regierungschefs sehr bewusst, in welcher besonderen Zeit wir sind, an einem besonderen Ort, und wie sorgsam wir mit unseren Entscheidungen umgehen müssen.

STANDARD: An Historie mangelt es im Schloss nicht. Es ist wie eine Gemäldegalerie europäischer Kriege über Jahrhunderte. Auf dem Fahnenmast über dem Hauptportal waren die französische und die europäische Fahne vereint aufgezogen.

Nehammer: Man spürt das totale Engagement Frankreichs für Europa, die Sichtbarkeit ist besonders ausgeprägt. Was man jetzt im Ukraine-Konflikt merkt, ist, dass Deutschland und Frankreich eine besonders wichtige Rolle spielen.

STANDARD: Man könnte manchmal meinen, die Großmachtpolitik aus Zeiten des Völkerbunds ist zurückgekehrt. Die Uno, die OSZE kommen in der Krisenbewältigung zur Ukraine kaum vor.

Nehammer: Ich versuche es aus der Sicht kleinerer Staaten einmal positiv auszudrücken. Es ist schon sinnvoll, wenn gerade bei einem so großen Konflikt eine stringente Kommunikation gegeben ist. Das bietet sich mit Frankreich und Deutschland an. Aber es wurde in den Sitzungen schon deutlich, dass mit den kleineren Staaten viel gesprochen wird, vor allem den besonders Betroffenen wie im Baltikum zum Beispiel. Deutschland hat eine sehr enge Verbindung zu den Niederlanden. Wir bringen unsere Verbindungen zu den östlichen Nachbarstaaten ein und unterstützen die OSZE. Jeder übernimmt seine Rolle, je nach nachbarschaftlichen, historischen Beziehungen.

"Was man jetzt im Ukraine-Konflikt merkt, ist, dass Deutschland und Frankreich eine besonders wichtige Rolle spielen", sagt Bundeskanzler Karl Nehammer, auf dem Bild mit Frankreichs Präsident Emmanuel Macron.
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STANDARD: Wie groß ist die Sorge, dass dieser Krieg für ganz Europa zur Gefahr wird?

Nehammer: Dass Russland gegen die Ukraine Krieg führt, ist ganz klar eine Frage von Täter und Opfer. Das wird sichtbar. Und es gibt unterschiedliche Betroffenheitslagen. Die kleinen Staaten an der Grenze zur Russischen Föderation trifft der Krieg in einem besonderen Ausmaß. Den großen EU-Staaten kommt eine besondere Verantwortung zu. Man merkt aber, dass wir sehr fokussiert sind auf diesen Konflikt. Die einzelnen Befindlichkeiten und Interessen, die sonst auch bei allen möglichen EU-Themen auftauchen, die gibt es freilich auch bei diesem Thema.

STANDARD: Wie wird das weitergehen in der Ukraine?

Nehammer: Die Einschätzungen, die jene, die mit Putin regelmäßig sprechen, uns gegeben haben, sind sehr ernst, nicht sehr optimistisch. Man ist froh, dass man eine Gesprächsfähigkeit zu Putin aufrechterhält. Man geht davon aus, dass der Konflikt noch härter wird. Der Verteidigungswille der Ukrainer fordert die Kampfbereitschaft der Russen derzeit extrem heraus.

STANDARD: Was bedeutet das?

Nehammer: Die Moral der Truppe ist auf der ukrainischen Seite höher als auf der russischen, was wiederum dazu führt, dass immer härtere Waffen eingesetzt werden.

STANDARD: Also ist die Hoffnung auf einen baldigen Waffenstillstand gering?

Nehammer: Es wird hinter den Kulissen alles versucht, das zu erreichen. Aber am Ende hängt es davon ab, ob der Stärkere sein Ziel erreicht, das ist die russische Seite. Wenn die Russische Föderation ihrem Ziel nahekommt, wird es immer schwieriger, zu Friedensverhandlungen zu kommen oder in einem Zwischenschritt auch nur zu einem Waffenstillstand.

STANDARD: Für uns Beobachter stellt sich die Sache so dar, dass weder die Nato noch die EU, auch nicht einzelne Länder, irgendwie bereit sind, in den Krieg einzugreifen, obwohl es immer öfter zu Kriegsverbrechen kommt, wie die Uno sagt. Ist das so?

Nehammer: Es ist im wahrsten Sinne des Wortes brandgefährlich, dass aus diesem Krieg ein Weltkrieg werden kann. Dem ist die Tatsache geschuldet, dass Europa wie die USA rein zivil reagieren auf diese militärische Auseinandersetzung, dass die Nato oder die USA militärisch eben nicht eingreifen. In dem Moment, wenn das passiert, haben wir einen Konflikt in einer viel größeren Dimension. Und die Russische Föderation würde das zur Rechtfertigung nützen, diesen Konflikt noch weiter zu eskalieren.

STANDARD: Dritter Weltkrieg ist ein großer Begriff, entmutigend. Ist diese Gefahr real oder nur eine Taktik Moskaus, damit zu drohen? Gibt es nicht eine Zwischenstufe des Eingreifens?

Nehammer: Wenn wir in die Geschichte zurückschauen, erkennt man, dass die Dynamiken eines Kriegs oft irrational sind. Der Erste Weltkrieg ist ein sehr gutes Beispiel dafür. Nach der Kriegserklärung der Habsburgermonarchie an das Königreich Serbien führte das aufgrund der Bündnisverpflichtungen anderer zu diesem furchtbaren Ersten Weltkrieg. Das ist atemberaubend schnell gegangen.

STANDARD: Wenn man ausgerechnet in Versailles sitzt wie wir gerade, ist das eine bedrückende Vorstellung.

Nehammer: Das stimmt. Die Wahrheit ist, dass man derzeit präzise gar nichts sagen kann. Aber allein das Risiko, dass dieser Fall eintreten könnte, ist so hoch, dass es gut ist, wenn keiner in die Nähe dieses Risikos kommt.

STANDARD: Wenn Putin nicht stehenbleibt, wird Europa dann zuschauen, wie die Ukraine ganz eingenommen wird? Wie wurde darüber geredet?

Nehammer: Zunächst einmal extrem betroffen, weil das ja schrecklich ist, was gerade passiert. Auch während wir hier reden, sterben in der Ukraine Menschen. Die Ukraine ist ein direkter Nachbarstaat der EU. Die Nähe des Kriegs ist im Grunde unerträglich.

STANDARD: Mit welchen Konsequenzen?

Nehammer: Der Druck auf uns, die Belastung ist groß. Man sieht ja schon aufgrund der Tatsache, welche Masse an russischer Armee ins Land eingedrungen ist, dass Wladimir Putin damit schon einige Gebietsansprüche verwirklicht hat und die Städte belagert. Das Leid wird täglich größer, nicht kleiner.

STANDARD: Rechnet man damit, dass Putin auf die besetzten Gebiete nicht mehr verzichten und auch Kiew einnehmen wird?

Nehammer: Dazu gibt es verschiedene Spekulationen. War es eine Intervention, um in der Ukraine in seinem Sinne die politischen Verhältnisse neu zu ordnen? Oder ist es mehr das, was er in seinen Aufsätzen geschrieben hat, dass er das "Neue Russland" wieder auferstehen lassen möchte? Das scheint für jene, die mit Putin zuletzt gesprochen haben, nicht zu erkennen zu sein. Er scheint aber total entschlossen, den ukrainischen Widerstand zu brechen.

STANDARD: Also geht man davon aus, dass Putin das Land erobern und die Regierung absetzen will, was immer er anschließend daraus machen wird?

Nehammer: Alles, was er bis jetzt getan hat, lässt darauf schließen, auch dass er bereits damit begonnen hat, Kiew einzuschließen.

STANDARD: Wie schnell kann das gehen?

Nehammer: Das lässt sich nicht abschätzen, auch weil viele überrascht waren, wie stark der Widerstandswille der Ukrainer ist. Und dass die Russische Föderation in der Offensive große Probleme hat, die Armee neu formieren, neu ausstatten muss. Da passieren jetzt gerade viele Dinge gleichzeitig, sodass die Einschätzungen immer schwieriger werden.

STANDARD: Muss man davon ausgehen, dass Europa die Ukraine an Russland verliert?

Nehammer: Ich bitte um Verständnis, dass ich diese Frage nicht so beantworten kann, wie Sie sich das vielleicht erwarten. Das gehört auch zum Respekt für die, die in der Ukraine gerade den Widerstand leisten. Die leben unter anderem auch davon, dass Europa an die freie Ukraine glaubt. Würde man jetzt ein Urteil fällen, wäre das so, wie wenn man sagt: "Das ist abgeschrieben."

STANDARD: Klingt nach Prinzip Hoffnung?

Nehammer: Ich habe gerade mit dem Bürgermeister von Kiew telefoniert, Witali Klitschko, der auch einen unglaublichen Widerstandswillen hat. Er ist ein wohlhabender Boxchampion, er könnte längst woanders sein, sein Leben in Sicherheit bringen. Aber er bleibt in seinem Land. Dieser Widerstandsgeist, die dramatischen Bilder, die auch die russische Öffentlichkeit nicht unberührt lassen werden, wie ich glaube, die vielen gefallenen russischen Soldaten, das macht eine Beurteilung schwer, welche Dynamik das alles noch in Russland selbst auslösen könnte. Die Soldatenmütter haben immer auch eine große Welle der Betroffenheit ausgelöst, bis in den Kreml hinein.

"Es ist im wahrsten Sinne des Wortes brandgefährlich, dass aus diesem Krieg ein Weltkrieg werden kann", sagt Nehammer über den russischen Angriff auf die Ukraine.
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STANDARD: Es gibt drei Möglichkeiten für die Europäer, in den Konflikt einzugreifen, diplomatisch, wirtschaftlich mit Sanktionen und militärisch. Habe ich es richtig verstanden, an direkte militärische Intervention denkt niemand?

Nehammer: Ja.

STANDARD: Man wird es also weiter nur diplomatisch und wirtschaftlich versuchen?

Nehammer: Ja. Man muss auch dazusagen, dass die Europäische Union auch einen völlig neuen Schritt gegangen ist. Sie liefert Waffen und Munition an die Ukraine. Das sind Waffen für den Defensiveinsatz, um die russische Föderation nicht zu provozieren, was bei Aggressionswaffen gegeben wäre.

STANDARD: Panzerabwehrkanonen gibt es?

Nehammer: Das ist eine Defensivwaffe, so wie Fliegerabwehrwaffen, die Stinger-Raketen. Alles das, was der Selbstverteidigung dient, wird über die Grenzen geliefert.

STANDARD: Die EU finanzierte das bisher mit 500 Millionen Euro aus dem gemeinsamen Budget, das wurde in Versailles nun auf eine Milliarde verdoppelt.

Nehammer: Das ist auch ein Paradigmenwechsel, das hat es so noch nicht gegeben.

STANDARD: Also gibt es schon eine Art militärische Intervention, zumindest indirekt.

Nehammer: Es gibt eine sehr klare Unterstützung für einen der Kriegsteilnehmer, um es so zu sagen.

STANDARD: Ist das für Österreich wegen der Neutralität nicht ein Problem?

Nehammer: Wir haben nicht explizit zugestimmt, sondern als neutrales Land die sogenannte konstruktive Enthaltung angewandt. Das bedeutet in der Praxis, dass man sich der Stimme enthält und so einen Beschluss der anderen Staaten möglich macht, konkret der Nato-Staaten in der EU. Das haben andere EU-Staaten auch so gemacht, wie Irland oder Malta.

STANDARD: In Österreich glauben viele Menschen, dass Neutrale sich da ganz heraushalten können, ist das also ein Irrtum? Wir zahlen die Militärhilfe über das EU-Budget ja mit.

Nehammer: Es ist so geregelt seit dem EU-Beitritt, dass auf unsere Neutralität Rücksicht genommen wird, wobei der EU-Vertrag von Lissabon in Bezug auf die solidarische Hilfe in der Union wichtig ist.

STANDARD: Welche Konsequenzen zeichnen sich aus dem Ukraine-Krieg für Europa ab? Wie war da die Stimmung unter Ihren Kolleginnen und Kollegen im Spiegelsaal von Versailles? Geht die Europäische Union danach in eine neue Epoche, in eine neue Dimension?

Nehammer: Das hat nicht nur eine oder einer gesagt, das haben sehr viele Regierungschefs gesagt. Es ist ein Paradigmenwechsel. Wir haben die Grundlagen für eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik im Grunde schon seit 2009 gestärkt, mit dem Lissabon-Vertrag. Die ist dann ein bisschen in einen Dornröschenschlaf verfallen. Jetzt ist sie stark präsent. Die ganze Sanktionspolitik läuft unter diesem Titel. Das ist für uns als neutrales Land sehr wichtig, denn es ist uns dann erlaubt, solche gemeinsamen Schritte zuzulassen und mitzutragen. Wir dürfen dann handeln, wenn es einen internationalen Beschluss gibt. Durch internationale Beschlüsse wie in der EU oder der Uno oder der OSZE sind wir legitimiert, können solidarisch sein.

STANDARD: Was wird sich für die EU militärisch ändern, wird man enger zusammenrücken?

Nehammer: Es hat sich ein Zeitfenster geöffnet. Uns wurde dramatisch vorgeführt, wie wichtig die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik ist und was das für die Verteidigungspolitik bedeutet. Die sind in allen EU-Staaten sträflich vernachlässigt worden. Wenn Deutschland sagt, es richte einen 100-Milliarden-Euro-Fonds ein, zusätzlich zu einem Wehrbudget von 50 Milliarden pro Jahr, dann sieht man, mit welcher Ernsthaftigkeit die Bundesrepublik das angeht.

STANDARD: In der Schlusserklärung von Versailles ist viel die Rede davon, dass diese nationalen Investitionen vor allem darauf ausgerichtet sein sollen, eine künftige europäische Militärunion zu stärken, abgestimmte Systeme, von der Forschung bis zur Rüstungsindustrie. Was bedeutet das?

Nehammer: Es geht darum, die Interoperabilität zu stärken. Wenn wir betrachten, wie viele Luftabwehrsysteme es gibt, kommt man drauf, dass die EU-Länder, die Union, viel mehr Systeme haben als die USA, die eines hat. Aber jenes der USA ist viel effizienter. Der Grundgedanke ist nun, sich daran zu orientieren, was die anderen Partner machen, was sie beschaffen, wie sie investieren, damit die Systeme dann miteinander gut kommunizieren.

STANDARD: Das gilt nun also auch für die nationale Planung?

Nehammer: Ich würde sagen, es wird stärker, das ist ein Entwicklungsprozess. Man merkte aber bei den Regierungschefs, dass der Wille und die Zustimmung ganz anders sind als noch vor drei Jahren.

STANDARD: Wie ist das in Österreich? Sie haben angekündigt, dass das Heeresbudget auf ein Prozent der gesamten Wirtschaftsleistung steigen soll, von derzeit 0,6 Prozent. Das ist sehr viel. Wie soll es investiert werden? Kompatibel mit einer künftigen EU-Armee?

Nehammer: Da kann ich einiges klarstellen. Was es nicht geben wird, ist eine EU-Armee. Dazu gibt es derzeit kein Bestreben, nirgendwo. Warum? Weil die gesamte politische Willensbildung dazu noch nicht abgeschlossen ist, um einen militärischen Einsatz einer EU-Armee auch tatsächlich auf den Boden zu bringen.

STANDARD: Und weil 21 von 27 EU-Staaten, alle großen, ohnehin Nato-Mitglieder sind?

Nehammer: Die EU-Armee ist kein Thema. Was aber seit 2009 ein großes Thema ist, ist die Interoperabilität, auch bei der Beschaffung. Das sind Fragen wie "Wie kann man miteinander besser kommunizieren? Wie geht der Informationsaustausch?" Das läuft bereits.

STANDARD: Sie haben vor ein paar Tagen eine Neutralitätsdebatte für beendet erklärt. Aber müsste man nicht umso mehr eine Sicherheitsdiskussion führen, gerade weil sich Europa da jetzt verändern wird? Und was das für Österreich bedeutet? Damit die Bevölkerung das versteht?

Nehammer: Ich finde es grundsätzlich immer wichtig, die Bevölkerung zu informieren und zu diskutieren. Aber es braucht den richtigen Zeitpunkt, das ist das Entscheidende. Man sollte gerade in einer Krisenzeit daraus kein Schauspiel machen, wenn wir in einem Nachbarland einen Krieg haben. Das wäre der falsche Moment, um über grundlegende Dinge der sicherheitspolitischen Ausrichtung eines Landes zu diskutieren.

STANDARD: Hier in Versailles wurde eine gemeinsame Verteidigungsunion zur Priorität erklärt, mit Ihrer Stimme.

Nehammer: Jetzt braucht es Klarheit. Wir waren neutral, wir sind neutral, und wir werden es auch bleiben. Die Neutralität hat sich für Österreich und für die Menschen im Land immer als nützlich erwiesen. Sie hat uns noch nie geschadet, hat uns immer geholfen. Wegen dieser Positionierung, dass wir noch immer ein konstruktiver Verhandlungspartner sein können für Drittstaaten außerhalb der EU, aber andererseits internationale Solidarität leben können in der EU oder der Uno, gibt es überhaupt keine Veranlassung, die Neutralität infrage zu stellen. Das würde die Menschen nur verunsichern und bringt überhaupt nichts.

STANDARD: Aber müsste man nicht drüber reden, dass ein Überfall auf ein EU-Land plötzlich möglich scheint – und dass es eine EU-Beistandspflicht gibt, die auch für Österreich gilt?

Nehammer: Auch da muss man präzise sein. Wir sind bereits Teil eines europäischen Sicherheitssystems, wir haben Soldaten in Battlegroups. Wir sind solidarisch. Was für mich in Versailles interessant war, ist, was dort von Vertretern großer Nato-Staaten gesagt wurde. Die Bündnisverpflichtung des Nato-Vertrags, der berühmte Artikel 5, sei unbestritten gültig. Jedem Nato-Land, das angegriffen wird, dem wird von der Nato geholfen. Es wurde aber der Zusatz gebracht, und es steht auch in der Erklärung von Versailles, dass darüber hinaus Artikel 42 (7) gilt für die EU-Mitgliedstaaten. Davon profitieren jene EU-Länder, die nicht Mitglied der Nato sind. Das betrifft Malta, Irland, Zypern und Österreich, aber auch Finnland und Schweden. Das war in dieser Klarheit bemerkenswert.

STANDARD: Was heißt das nun konkret? Wenn Finnland oder ein baltisches Land von Russland oder Belarus angegriffen wird, würde auch Österreich dem Land dann militärisch beistehen oder nicht?

Nehammer: Finnland ist paktfrei, das würde den europäischen Solidaritätsmechanismus auslösen. Dann würde jeder Staat für sich entscheiden, wie er am besten helfen kann, auch wir. Das kann man nicht theoretisch beantworten.

Jene EU-Staaten, die zugleich der Nato angehören, haben beim EU-Gipfel Kanzler Nehammer zufolge deutlich gemacht, dass die Neutralen und Bündnisfreien wegen der EU-Beistandspflicht indirekt auch von der Nato geschützt werden.
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STANDARD: Sie als Bundeskanzler, wie würden Sie das beantworten, wo wollen Sie Österreich sicherheitspolitisch hinführen?

Nehammer: Das europapolitische Ziel muss ein klares Bekenntnis sein, dass Probleme gemeinsam europäisch gelöst werden sollen, aber immer unter der Vorgabe der Subsidiarität. Nur die großen Probleme, die auf den unteren, nationalen Ebenen nicht gelöst werden können, sollen von der Union entschieden werden. Und es braucht bei sensiblen Fragen immer die nationalstaatliche Tangente, die Einzelfallprüfung. Das ist übrigens in der Nato auch so beim Artikel 5.

STANDARD: Es mehrt sich die Kritik, dass Österreich in den vergangenen Jahren einen viel zu Putin-freundlichen Kurs gefahren ist, politisch wie in der Wirtschaft. Wie sehen Sie das?

Nehammer: Österreich ist traditionell immer schon ein Ort für Dialog zwischen Ost und West gewesen sowie ein Brückenbauer. Die Iran-Atomverhandlungen sind nur eines von vielen Beispielen dafür. Unsere Wirtschaft hat von Anfang an stark in Russland investiert, auch vom Gedanken getragen, dass wirtschaftlicher Austausch immer auch ein Stück weit das Land für den Westen öffnet und eine wichtige Grundlage ist für friedliche zwischenstaatliche Beziehungen. Der Angriffskrieg auf die Ukraine ändert nun alles. Die EU hat mit scharfen wirtschaftlichen Sanktionen reagiert, und auch viele westliche Unternehmen, darunter auch österreichische, ziehen sich ganz aus Russland zurück.

STANDARD: Besonders heftig wird diskutiert, wie sich der damalige Präsident der Wirtschaftskammer, Christoph Leitl, und Ex-Präsident Heinz Fischer noch kurz nach der russischen Annexion der Krim kumpelhaft gegenüber dem russischen Präsidenten Putin gegeben haben. Stichwort "Gute Diktatur". Vizekanzler Werner Kogler sprach von einer Schleimspur auf dem roten Teppich. Wäre es nicht höchste Zeit, Fehler einzuräumen, solche peinlichen Auftritte heute öffentlich zu bedauern?

Nehammer: Ich finde es generell nicht sehr sinnvoll, anderen Politikern öffentlich etwas auszurichten. Ich sehe ehrlich gesagt aktuell auch wenig Sinn in dieser Debatte.

STANDARD: Was sind Ihre persönlichen europapolitischen Ziele für das nächste Jahrzehnt? Die Innenpolitik in Österreich ist seit Jahren geprägt durch Polarisierung, harten Umgangston, durch ständige Regierungskrisen, Skandale in Ihrer Partei. Wo wollen Sie in Europa hin?

Nehammer: Das europapolitische Ziel muss ein starkes Bekenntnis zum gemeinsamen Lösen von Problemen sein, auch in Sicherheitsfragen. Das ist das Wichtigste. Es braucht ein Verständnis für die EU-Ebene wie gleichzeitig eine ausreichende Kompetenz für die Nationalstaaten und Regionen, um Probleme vor Ort gut zu lösen. Das ist bereits Realität. Es gibt das Prinzip der Subsidiarität.

Ratspräsident Charles Michel, Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und Kommissionschefin Ursula von der Leyen beim EU-Gipfel in Versailles.
Foto: APA/AFP/LUDOVIC MARIN

STANDARD: Wurde die Europapolitik in Österreich in den letzten zehn Jahren vernachlässigt?

Nehammer: Wir sollten das, was begonnen worden ist, noch viel stärker ausbauen. Ich habe gelernt, dass man sich in der EU bei 27 Mitgliedstaaten wie in einer Großfamilie sehr bemühen muss, sich durchzusetzen. Wir müssen über die spezifischen österreichischen Probleme klar und präzise informieren. Warum? Weil die Kommission sich primär mit den großen Problemen beschäftigt. Das geht vom Energiemix bis zur Gasversorgung.

STANDARD: Was begonnen worden ist – noch in der Ära von Alois Mock und Franz Vranitzky?

Nehammer: Wir müssen offensiver proeuropäisch auftreten. Das bedeutet, volle Unterstützung für die Kommission und das Europäische Parlament. Es ist wichtig, den Europa-Gedanken aufzuzeigen, dass wir gemeinsam denken. Aber die Kleinen müssen Gehör finden. Das habe ich noch nie so stark gespürt wie derzeit, denken Sie an die baltischen Staaten. Wir sind 1995 der EU beigetreten, es war schwer, die Kriterien zu erfüllen. Es war sozusagen eine Ehre, Mitglied der EU zu sein. Darum geht es. Wir müssen ständig unsere Position erklären und verständlich machen. Wir müssen laut und proeuropäisch sein.

STANDARD: Um sich in Brüssel Gehör zu verschaffen, muss ein Staat vor allem geschlossen auftreten. So wie es in der Innenpolitik seit Jahren zugeht, wenn Sachpolitik durch ständige Emotionalisierung und Polarisierung überlagert wird, ist das aber schwierig. Wie wollen Sie das als Kanzler hinkriegen?

Nehammer: Der parlamentarische Prozess ist in allen Ländern ähnlich. Dass die Opposition scharf kritisiert, gehört dazu. Aber die Regierung muss geschlossen sein, da können nicht unterschiedliche Positionen vertreten werden. Was mir auffällt, was anderswo stärker der Fall ist, ist, dass die EU-Parlamentarier stärker zusammenhalten, sich nicht nur in Fraktionen aufspalten, sondern sich im gesamteuropäischen Interesse verhalten.

STANDARD: In Brüssel hat man oft den Eindruck, dass die Österreicher intern völlig uneinig sind, auch bei den großen nationalen Fragen, auch in der Regierung. Es reagiert die Polemik.

Nehammer: Ich habe das anders erlebt, was daran liegt, dass ich als Bundeskanzler und schon als Innenminister in Krisenzeiten agiert habe. Dadurch war das Zusammenarbeiten auf EU-Ebene immer extrem konstruktiv, etwa was die Erreichbarkeit der EU-Repräsentanten betrifft. Sensationell geradezu. Auch mit den Ministern, mit dem Bundespräsidenten. Das war bei der Pandemie so, jetzt in Fragen der Sicherheit, in der Russland-Krise. Der operative Teil in Österreich muss abgestimmt sein.

STANDARD: Wird die Koalition halten, auch über den Untersuchungsausschuss zu Korruption und ÖVP?

Nehammer: Es gibt eine gute und vertrauensvolle Zusammenarbeit mit dem Vizekanzler, auch mit der Klubobfrau der Grünen im Parlament. Eine Koalition braucht eine tragfähige Mehrheit im Parlament. Wenn es gelingt, die Opposition mitzunehmen, umso besser. Wir haben eine tragfähige Mehrheit.

STANDARD: Es gibt aber das ständige Chaos bei den Corona-Maßnahmen, jetzt kommt die Energiekrise, die Preisexplosion dazu, da ist viel Sprengstoff für die Koalition.

Nehammer: Wir müssen die Pandemiekrise erst noch überstehen, jetzt kommt noch der Krieg in der Ukraine dazu. Die Inflation ist ein riesiges Problem, bei dem man die richtigen Maßnahmen ergreifen muss. Das geht nicht mit dem groben Keil, da muss man sehr achtsam sein. Es wird ein Maßnahmenpaket der Union geben, das von der Kommission und der Eurogruppe jetzt zusätzlich zu unseren nationalen Maßnahmen erarbeitet wird, das haben wir hier beschlossen. Wir stehen gemeinsam vor einer völlig neuen Herausforderung. Deshalb braucht es auch die Europäische Union. Diese Probleme sind so groß, die kann man nationalstaatlich gar nicht mehr lösen.

STANDARD: Was ist Ihr persönliches Ziel als Regierungschef, wohin möchten Sie bis zu den Wahlen in zwei Jahren kommen?

Nehammer: Ich habe zwei große Ansprüche. Wir müssen die Krisen, die die Menschen so sehr belasten, mit ihnen und für sie gut bewältigen. Die Preisspirale bei der Energie gehört dazu. Das ist mein erstes Ziel. Und wir müssen trotz dieser Krisen die wichtigen Vorhaben, die wir beim Umbau der Gesellschaft machen müssen, vorantreiben. Es gibt große Herausforderungen bei der Pflege, bei der Bildung, wir müssen uns bei der Investition in Forschung weiterentwickeln. Darum geht es. (Thomas Mayer, 13.3.2022)