Rechtsanwältin Julia Andras analysiert ein Scheidungsurteil, bei dem beide Parteien die Ehe zerrüttet haben.

Stehen die Ehegatten vor den Trümmern ihrer gemeinsamen Beziehung, geht es in vielen Fällen oft nur noch darum, im Scheidungsverfahren zu gewinnen. Das Verschuldensprinzip im österreichischen Scheidungsrecht hat hier maßgebliche Bedeutung, ist es doch ausschlaggebend für allfällige nacheheliche Unterhaltspflichten. So trachtet die (einkommenslose oder weniger verdienende) Ehefrau häufig nach einem alleinigen oder überwiegenden Verschulden des (treulosen, zumeist besserverdienenden) Ehemannes. Dieser wiederum strebt aus unterhaltsrechtlichen Überlegungen meistens ein gleichteiliges Verschulden an. In einer unlängst ergangenen Entscheidung des Obersten Gerichtshofes (OGH vom 2.12.2020, 6 Ob 197/20v) wurde trotz eindeutig festgestellten, vom Ehemann geheim gehaltenen Ehebruchs das gleichteilige Verschulden der Ehegatten festgestellt.

Zur Vorgeschichte

Die betroffenen Ehegatten schlossen 1993 die Ehe. Dieser entstammen keine Kinder. Der Ehemann war sowohl amerikanischer als auch österreichischer Staatsbürger, die Ehefrau staatenlos oder russische Staatsbürgerin. In der vom Ehemann eingebrachten Scheidungsklage begehrte dieser die Scheidung mit der Begründung, seine Frau habe sich während der gesamten Ehe lieb- und respektlos ihm gegenüber verhalten. Sie habe ihn bei Freunden und Familie schlecht gemacht und ihm dadurch beruflichen Schaden zugefügt. Sie habe sich durchgehend rüde, beleidigend, verleumderisch und verspottend verhalten. Sie habe auch übermäßig Geld ausgegeben und sich seinem Kinderwunsch entgegengestellt.

Außerdem habe sie ihm durch Medienkontakte und Medienartikel absichtlich Schaden zugeführt. Der Ehemann war im Bereich des Finanzwesens tätig und dort insbesondere auf seinen guten Ruf und die Vertrauenswürdigkeit seiner Person angewiesen. Falsche Anschuldigungen und die Verbreitung von Gerüchten vonseiten seiner Ehefrau hätten ihm Schaden zugeführt. Die Ehefrau wiederum wandte als Eheverfehlung ihres Mannes dessen außereheliche Beziehung und den von ihm dadurch begangenen Ehebruch ein. Er habe diesen auch vor ihr geheim gehalten und parallel begonnen, ein neues Leben mit der zweiten Frau in Wien aufzubauen.

Das Gericht erster Instanz gab dem Ehemann recht und sprach zunächst aus, dass beide Ehegatten gleichteiliges Verschulden treffe. Über Berufung der Ehefrau änderte das Berufungsgericht dieses Urteil aber dahingehend ab, dass es das überwiegende Verschulden an der Zerrüttung der Ehe beim Ehemann feststellte, dies aufgrund des ihm anzulastenden Ehebruchs. Der Ehemann wandte sich mit einer außerordentlichen Revision an den Obersten Gerichtshof, der ihm inhaltlich aus folgenden Gründen recht gab.

Überwiegendes Verschulden

Der Ausspruch eines überwiegenden Verschuldens an der Zerrüttung einer Ehe ist nach überwiegender Meinung und ständiger Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes nur dann zulässig, wenn das Verschulden dieses Ehegatten erheblich schwerer wiegt als dasjenige des anderen Teils. Der graduelle Unterschied der beiderseitigen Verschuldensanteile muss augenscheinlich hervortreten. Hier ist ein strenger Maßstab anzulegen. Überwiegendes Verschulden ist auch nicht bei einem Überwiegen von mehr als 50 Prozent, sondern erst dann anzunehmen, wenn das Verhalten der Gegenseite wertungsmäßig fast völlig in den Hintergrund tritt. Das Gericht ist verpflichtet, eine Gesamtwürdigung vorzunehmen. Hier geht es aber nicht darum, die einzelnen Eheverfehlungen der Ehegatten zahlenmäßig gegenüberzustellen, um dadurch einen überwiegenden Anteil herauszurechnen. Es kommt vielmehr darauf an, in welchem Umfang die Verfehlung zu der schließlich eingetretenen Zerrüttung der Ehe und damit deren Scheitern beigetragen hat, wobei das Gesamtverhalten der Ehegatten zu berücksichtigen ist.

Von überwiegendem Verschulden spricht man nur bei einer erheblichen Eheverfehlung eines Eheteils.
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Wie die Verschuldensabwägung in einem Scheidungsverfahren vorzunehmen ist

So kam der Oberste Gerichtshof im gegenständlichen Fall zu dem Ergebnis, dass die zahlreichen Beleidigungen und auch körperlichen Attacken gegenüber ihrem Ehemann, ihr zumeist respektloses und beleidigendes Verhalten sowohl ihm gegenüber als auch gegenüber seinen Freunden und Familie eine so schwere Eheverfehlung darstellen, dass diese maßgeblich zur Zerrüttung beigetragen hat. Obwohl der Oberste Gerichtshof anerkennt, dass auch der Ehebruch als schwerste Eheverfehlung gegen die eheliche Treuepflicht grundsätzlich besonders schwer wiegt, kommt es auch bei seiner Beurteilung darauf an, ob und inwieweit er zur Zerrüttung der Ehe beigetragen hat und welches Gewicht ihm im Vergleich zu den Eheverfehlungen des anderen Ehepartners zukommt. So muss ein Ehebruch nicht immer zum überwiegenden Verschulden führen.

Das langjährige, aggressive, herabwürdigende und respektlose Verfahren der Ehefrau gegenüber ihrem Mann, seinen Mitarbeitern, Freunden und seiner Familie fällt ihr damit zur Last. Dazu kommen wiederholte körperliche Attacken, die in einem Fall zu sichtbaren Kratzspuren führten, und das Einsperren des Ehemannes in einem Zimmer über längere Zeit. Daraufhin zog sich der Ehemann von seiner Ehefrau zunehmend zurück und plante ein Leben in Wien, ohne seine Frau darüber zu informieren. Des Weiteren begann er eine außereheliche Beziehung. Im Laufe der Zeit lebten sich die Ehegatten immer mehr auseinander und verbrachten auch immer weniger Zeit miteinander. In einem solchen Fall ist nach der ständigen Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes von einem gleichteiligen Verschulden auszugehen.

Im Ergebnis sprach der Oberste Gerichtshof aus, dass ein überwiegendes Verschulden des Ehemannes an der Zerrüttung der Ehe nicht gerechtfertigt sei, da es nachvollziehbar ist, wenn er sich nach jahrelangen Beschimpfungen, Respektlosigkeiten und wiederholten körperlichen Attacken letztlich einer anderen Frau zuwendet.

Dieser Fall veranschaulicht sehr gut, wie die Verschuldensabwägung in einem Scheidungsverfahren vorzunehmen ist. Daher ist es wichtig, sich für den Fall der Trennung beziehungsweise Scheidung entsprechend beraten zu lassen, zumal der Schuldausspruch im Scheidungsverfahren maßgebliche finanzielle Folgen nach sich ziehen kann. (Julia Andras, 18.3.2022)