Die monumentalen Auswirkungen dieses Krieges in Europa sind noch gar nicht richtig abzusehen. Vielleicht hilft es, den großen historischen Blick zu versuchen. Ein wichtiger Beitrag dazu ist das Gespräch, das der Chefredakteur des New Yorker, David Remnick, mit dem Historiker und Stalin-Biografen Stephen Kotkin (Princeton) führte.

Kotkin entgegnet dem auch bei uns recht beliebten Pseudoargument, die Nato/USA hätten Russland/Putin halt nicht so reizen dürfen, mit einem unwiderlegbaren historischen Faktum: "Lange bevor die Nato existierte – nämlich im 19. Jahrhundert –, sah Russland so aus: Es hatte einen Autokraten. Es hatte Repression. Es hatte Militarismus. Es hatte Misstrauen gegenüber Fremden und dem Westen. Das ist das Russland, das wir kennen, und es ist nicht das Russland, das gestern angekommen ist oder in den 1990ern. Es ist nicht eine Reaktion auf Aktionen des Westens."

Seit Stalin hat Russland keinen so absoluten Herrscher mehr gesehen wie Wladimir Putin.
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Eine solche unaufgeklärte, auf Gewalt basierende Gesellschaft bringt auch immer wieder Ein-Mann-Herrschaften hervor. Niemand wird leugnen können, dass es in Russland – außer ganz kurzen Phasen – nichts gab, was irgendwie als halbwegs demokratisches, rechtsstaatliches System hätte bezeichnet werden können. Seit Stalin hat Russland keinen so absoluten Herrscher mehr gesehen wie Wladimir Putin.

Großmacht

Das wirklich Erschreckende an der langfristigen Entwicklung Russlands ist aber das, was man als "imperiale Überhebung" bezeichnen könnte. "Russland ist eine beachtliche Zivilisation", sagt Kotkin. Aber "zur gleichen Zeit glaubt Russland, dass es einen ‚speziellen Platz‘ in der Welt hat, eine spezielle Mission. Es ist östlich-orthodox, nicht westlich. Und es will als eine Großmacht hervorstechen." Wer die letzten Reden Putins und/oder seinen Aufsatz über die Einheit Russlands und der Ukraine gesehen hat, kann keinen Zweifel an diesen imperialen, missionarischen Ambitionen hegen. Aber: Russlands Problem, so Kotkin, sei "nicht dieses Selbstgefühl oder diese Identität, sondern das Faktum, dass seine Fähigkeiten nie seinen Ansprüchen entsprochen haben. Es ist immer in einem Kampf, diese Ansprüche zu erfüllen, aber es kann nicht, weil der Westen immer mächtiger gewesen ist."

"Russland ist eine Großmacht, aber nicht die Großmacht" (Kotkin). Daher greift es zum Mittel des Zwanges, nach innen und nach außen. Das funktioniert manchmal und in begrenzter Zeit, aber am Ende hat der Westen "die Technologie, das Wirtschaftswachstum und das stärkere Militär" (Kotkin). Ein Riesenland mit lediglich dem dreieinhalbfachen Bruttonationalprodukt von Österreich – und ein übersteigerter imperialer Anspruch; das geht nicht zusammen.

Was ist die Konsequenz für den Westen? Kotkin hält die jetzige Mischung aus anhaltendem Druck (Sanktionen, Waffenlieferungen für die Ukraine) und der Suche nach diplomatischen Lösungen für richtig, warnt aber vor einem "Maximalismus", der einen in die Enge gedrängten Putin zu Verzweiflungshandlungen bringen könnte. Längerfristig wird man aber wohl ausloten müssen, was Russland helfen kann, sich aus seiner imperialistischen, autokratischen Isolation und seiner Anfälligkeit für Despoten zu lösen. (Hans Rauscher, 23.3.2022)