Rechtsanwalt Alfred J. Noll kritisiert in seinem Gastkommentar, wie über die Justiz diskutiert wird. Viele hätten die "grundsätzliche Problematik aus den Augen" verloren und würden vorschnell argumentieren.

Auch wenn man in Hinsicht auf das Verhältnis von Justiz und Politik nach gut 30 Jahren praktischer Erfahrungen auf diesem Feld mit einem gewissen Phlegma gesegnet ist, so lässt sich doch kaum übersehen, dass die einzelnen Ereignisse der letzten Monate von einer Beachtlichkeit sind, die es schwermacht, gelassen und unbeeindruckt zu bleiben. Der Blick auf die skandalträchtigen Geschehnisse verleitet freilich dazu, sich vorschnell an Einzelheiten zu orientieren und damit die grundsätzliche Problematik aus den Augen zu verlieren; anders gesagt: Die sich zu diesem Thema Äußernden leiden allesamt an einer die Sache selbst weiter schädigenden Unmittelbarkeitsverhaftetheit.

Justizministerin Alma Zadić (Grüne) am Mittwoch im ÖVP-Korruptions-U-Ausschuss.
Foto: APA / Helmut Fohringer

Der Zustand der österreichischen Diskussion über die Justiz zeichnet sich aus durch Gedankenarmut und nachfolgende Inhaltsleere. Daraus resultiert dreierlei:

Die medialen Hervorbringungen neigen erstens dazu, das Verhältnis von Politik und Justiz zu personalisieren. Das Problem bestünde also vornehmlich und lediglich darin, dass Leute auf Sesseln säßen, auf denen besser andere Platz nehmen sollten. Damit wird verkannt, dass – wer auch immer irgendwo sitzt – diese Leute jeweils das symptomatische Resultat von Strukturen sind, die just dieses Personal nach oben befördern. Die wohlfeile Forderung, dass bestimmte Personen "weg" gehörten, ist freilich nichts anderes als eine Art Symptombekämpfung auf niedrigem intellektuellem und justizpolitischem Niveau.

Absurde Rede

Wo die Sache nicht als Problem des Personals gesehen wird, neigen die politischen Akteure dazu, alle justiziellen Ereignisse flugs ins Korsett bloß parteipolitischer Kritik einzuordnen. Die absurde Rede von einer "roten Justiz" ist erkennbar nicht auf Problemanalyse und -behebung gerichtet, sondern ist mit ihrer denunziatorischen Vehemenz nur darauf aus, gesteigerte Affektbereitschaft bei der eigenen Anhängerschaft zu erwecken. Nicht minder inadäquat ist das Postulat, man solle doch eine "unabhängige Staatsanwaltschaft" in Ruhe arbeiten lassen (solange sie gegen den politischen Gegner vorgeht), dann würde sich das von Klüngelei und allem Grind bisher nicht vorstellbarer Chatnachrichten gesäuberte Himmelreich auf Erden schon fast wie von selbst ergeben.

Die damit immer einhergehende Unterstellung, die Strafjustiz würde sich mit ihren Aktivitäten stets schon an parteipolitischen Koordinaten orientieren, führt freilich ins Abseits und hat eine kontraintuitive Wirkung: Je mehr ich der Justiz zunächst realitätsfern vorwerfe, sie agiere im parteipolitischen Interesse, desto mehr gerät sie tatsächlich in den von ihr nicht zu steuernden Verdacht, "politisch" zu sein – ist doch der gegen sie erhobene Verdacht durch die Strafjustiz selbst nicht zu widerlegen; ganz im Gegenteil: Beteuert sie ihre parteipolitische Unabhängigkeit, wird sie in der Öffentlichkeit selbst zum politischen Akteur, und der Vorwurf gegen sie findet einen neuen Anlass zur Erregung.

Verwaltungsorgan "Justizministerin"

Schließlich wird selbst von jenem Teil des Publikums, der sich nicht an der Personalisierung und Parteipolitisierung der Auseinandersetzung beteiligt, aus der ganzen Sache kaum eine andere Schlussfolgerung gezogen als der Zuruf an die Justizministerin, sie müsse jetzt mehr noch als bisher für Ordnung sorgen und die ganze Malaise durch entschlossenes Handeln "richten". Das aber ist eine völlige Verkennung dessen, von wem die justizpolitischen Vorgaben und Direktiven in einer parlamentarischen Demokratie ausgehen sollten: Das Verwaltungsorgan "Justizministerin" hat für den effektiven und klaglosen Ablauf der strafjustiziellen Maschinerie in diesem Land zu sorgen. Wer sich also aufforderungsbetont nur an die Ministerin wendet, der unterstellt, dass wir im Verhältnis von Justiz und Politik in diesem Land nur ein administratives Problem hätten, das durch ein paar ministerielle Korrekturen leichtlich zu beheben wäre – das aber ist ein grundsätzlicher Irrglaube.

Öffentliches Strafbedürfnis

Wie wollen wir den offenkundigen Unebenheiten im Verhältnis von Politik und Strafjustiz begegnen? Die Antwort auf diese Frage hängt vom jeweiligen Vorverständnis ab und damit wesentlich davon, was wir von unserer Strafjustiz erwarten. Im demokratischen Rechtsstaat ist die Staatsanwaltschaft – ganz grob gesprochen – unser aller Anwalt. Sie hat nach geltender Rechtslage als Vertreter von uns allen (!) beim Verdacht von Gesetzwidrigkeiten zu ermitteln und bei entsprechender Aussicht auf Verurteilung auch anzuklagen und das öffentliche Strafbedürfnis geltend zu machen. Über diese Anklage entscheiden dann unabhängige Gerichte.

Das klingt nicht schlecht. Dieser Rechtslage inhärent ist aber das Risiko, dass trotz bestehender Verdachtslage nicht ausreichend ermittelt und trotz Aussicht auf Verurteilung nicht angeklagt wird ("Daschlagts es!"). Daraus resultiert die Forderung, die Staatsanwaltschaft weisungsfrei zu stellen. Indes führt man sich selten vor Augen, dass eine Staatsanwaltschaft nicht mehr unser aller Anwalt ist, wenn sie, unabhängig gestellt, sodann tun und lassen darf, was ihr gefällt oder passend erscheint. Dann wäre es doch klüger, zumindest die Ermittlungen wieder in die Hand unabhängiger Untersuchungsrichter zu legen und bei der Frage, ob nun angeklagt wird oder nicht, für sehr viel mehr Transparenz und effektive Nachkontrolle zu sorgen. Dafür nämlich, was angeklagt und was nicht angeklagt wird, hat sehr wohl die Justizministerin die politische Verantwortung zu übernehmen – und politische Verantwortung wird in der parlamentarischen Demokratie letztlich geltend gemacht durch die Möglichkeit parlamentarischer Kontrolle und durch Wahlen.

In einer an diesem Ort wohl erlaubten Zuspitzung der Sache ließe sich sagen: Wir haben kein Problem mit unserer Justiz. Wir haben ein Problem mit unserer Politik. (Alfred J. Noll, 1.4.2022)