Bild nicht mehr verfügbar.

Foto: Reuters/Zohra Bensemra

Am Samstagabend haben die ukrainischen Streitkräfte die Rückeroberung von etlichen Dörfern, die in russischen Händen waren, verkündet. Erste Berichte und Fotos dokumentieren zerstörte Straßen, ausgebrannte Panzer und etliche zivile Leichen in den Straßen.

Der Bürgermeister des rückeroberten Vororts Butscha teilte mit, dass die russischen Invasoren während ihrer einmonatigen Besatzung dort 300 Bewohner getötet hätten. 280 Opfer seien in einem Massengrab entdeckt worden, weitere lägen auf den Straßen.

Auf Bildern der Nachrichtenagentur AFP sieht man über mehrere hundert Meter verstreut zahlreiche Leichen in Zivilkleidung. Es sind Anblicke des Grauens: Ein Mann tot auf der Straße neben seinem Fahrrad, weitere leblose Körper liegen mit Kopfschüssen und am Rücken zusammengebundenen Händen auf der Straße. Medienberichten seien zumindest 20 Leichen vorgefunden worden. Reuters-Journalisten bestätigten auch den Fund des Massengrabs: Demnach würden die Arme und Beine der Opfer aus dem noch offenen Massengrab nahe der Dorfkirche herausragen.

Laut ukrainischen Medienberichten wurden in Butscha zielgerichtet Männer im wehrfähigen Alter von der russischen Armee umgebracht. "Die russischen Invasoren haben die gesamte männliche Bevölkerung im Alter von 16 bis 60 Jahren in Butscha getötet", schrieb der Journalist Taras Beresowets am Samstag auf Twitter.

Russland weist Verantwortung von sich

Russland stellte wenig überraschend die Verantwortung für die Tötungen in Abrede. Jegliches von der Ukraine veröffentlichte Bild- und Filmmaterial in diesem Zusammenhang stelle eine Provokation dar, meldete die Nachrichtenagentur RIA unter Berufung auf das Verteidigungsministerium in Moskau. Alle russischen Einheiten hätten Butscha am 30. März verlassen, meldete Interfax.

Selenskyj: "Das ist Völkermord"

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj fand indes klare Worte: "Das ist Völkermord. Die Auslöschung einer Nation und seines Volkes." Er forderte im US-Sender CBS, dass "alle Verantwortlichen, einschließlich der Befehlshaber, bestraft werden müssen". Der ukrainische Außenminister Dmitro Kuleba sprach von einem "absichtlichen Massaker" und forderte weitere Sanktionen. "Die Russen wollen so viele Ukrainer wie möglich vernichten", schrieb er im Onlinedienst Twitter.

Selenskyjs Berater Mykhailo Podoliak fand deutliche Worte und postete unzensierte Bilder aus Butscha: Es sei die "Hölle des 21. Jahrhunderts". Die schlimmsten, nazistischen Verbrechen seien nach Europa zurückgekehrt und mutmaßlich durch Russland begangen worden. Er forderte einen Stopp der Energieimporte, eine Schließung der Häfen und ein Ende des Mordens.

Auch Kiews Bürgermeister Witali Klitschko sprach in einem Interview mit der deutschen Boulevardzeitung "Bild" von russischen "Kriegsverbrechen": "Das, was in Butscha und anderen Vororten von Kiew passiert ist, kann man nur als Völkermord bezeichnen", sagte Klitschko. "Es sind grausame Kriegsverbrechen, die Putin dort zu verantworten hat. Zivilisten, die mit verbundenen Händen erschossen wurden."

In Butscha waren neben der Zerstörung von Infrastruktur und verminten Straßen auch zahlreiche Leichen in ziviler Kleidung zu sehen, wie Journalisten berichteten.
Foto: IMAGO / Mykhaylo Palinchak

HRW: "Offensichtliche Kriegsverbrechen"

Die NGO Human Rights Watch (HRW) sprach am Sonntag in einem Bericht von "offensichtlichen Kriegsverbrechen" in den von Russland kontrollierten Gebieten. In Tschernihiw, Charkiw und in der Region rund um Kiew sei es zu wiederholten Vergewaltigungen, Exekutionen und illegaler Gewalt gegen Zivilisten zwischen Ende Februar und Mitte März gekommen, heißt es. Die Organisation habe zehn Zivilisten interviewt.

EU-Kommissionspräsidentin Ursula Von der Leyen zeigte sich entsetzt. Sie forderte eine schnelle, unabhängige Untersuchung der Geschehnisse in den Kiewer Vororten. Die Verantwortlichen wolle man zur Rechenschaft ziehen, so die Kommissionspräsidentin.

"Weitere EU-Sanktionen und Unterstützung sind auf dem Weg. Slava Ukrajini!", twitterte EU-Ratspräsident Charles Michel. Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell zeigte sich "schockiert". Alle Fälle müssten vor den Internationalen Gerichtshof gebracht werden. Der französische Präsident Emmanuel Macron bezeichnete die Bilder "mit Hunderten feige ermordeter Zivilisten auf Straßen" als "unerträglich". Auch die britische Außenministern Liz Truss zeigte sich entsetzt von den Bildern.

Deutschland kündigt neue Sanktionen an

Der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) kündigte nach den Bildern aus Butscha am Sonntagabend an: "Wir werden im Kreis der Verbündeten in den nächsten Tagen weitere Maßnahmen beschließen". Deutschland werde der Ukraine weiter Waffen liefern, damit diese sich gegen Russland verteidigen könne. "Die Ermordung von Zivilisten ist ein Kriegsverbrechen. Diese Verbrechen der russischen Streitkräfte müssen wir schonungslos aufklären", sagte Scholz. Er sprach von grauenhaften Nachrichten und verlangte, dass internationale Organisationen Zugang zu den Gebieten nördliche von Kiew bekommen und die Taten dokumentieren müssten. "Die Täter und ihre Auftragebern müssen zur Rechenschaft gezogen werden."

Verteidigungsministerin Christine Lambrecht brachte zuvor bereits einen Gasstopp ins Spiel, verwies aber auf die dafür erforderlichen Abklärungen innerhalb der EU. Deutschland zählte bisher gemeinsam mit Österreich zu den Bremsern innerhalb der EU, was einen Verzicht auf russische Gaslieferungen betrifft. Dagegen gaben die baltischen Staaten am Sonntag bekannt, seit Monatsbeginn komplett auf russisches Gas zu verzichten.

Auch der deutsche Wirtschaftsminister und Vizekanzler Robert Habeck sowie dessen Grünen-Parteikollegin und Außenministerin Annalena Baerbock hatten zuvor eine "Verschärfung der Sanktionen" befürwortet.

Nehammer: "Grauenvolle Bilder"

Österreichs Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) sagte: "Die grauenvollen Bilder von erschossenen Zivilisten in Butscha zeigen: Dort sind Kriegsverbrechen begangen worden. Sie müssen lückenlos aufgeklärt und die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden. Die russische Armee hat sich dafür zu verantworten."

"Zutiefst erschüttert" von den "grauenerregenden Bildern" in Butscha zeigte sich auch Bundespräsident Alexander Van der Bellen. "Diese Verbrechen gegen die Menschlichkeit, gegen alles wofür wir stehen, werden geahndet werden", betonte der Bundespräsident am Sonntagabend auf Twitter.

Zuvor hatte sich bereits das österreichische Außenministerium entsetzt über die Bilder aus Butscha gezeigt. Es versprach zugleich eine Untersuchung aller begangenen Verbrechen durch die Uno-Untersuchungskommission. Die Verantwortlichen der Verbrechen würden dafür zur Rechenschaft gezogen.

Selenskyj warnt vor Minen

Die ukrainische Armee hat rund um die Hauptstadt eigenen Angaben zufolge etwa 30 Dörfer zurückerobert und die Rückeroberung der gesamten Hauptstadtregion um Kiew vermeldet. Die Behörden sprachen von einem "schnellen Rückzug" der Invasoren, erhoben aber zugleich schwere Vorwürfe gegen sie.

So warnte Präsident Selenskyj, die abziehenden Truppen hätten Minen hinterlassen. "Sie verminen dieses Territorium. Häuser werden vermint, Ausrüstung wird vermint, sogar Leichen", behauptete Selenskyj.

Eine von der ukrainischen Armee vorgefundene, nicht explodierte Mine inmitten der Straße.
Foto: IMAGO/Mykhaylo Palinchak

Ex-IStGH-Anklägerin fordert Haftbefehl gegen Putin

Am Samstag äußerte sich die frühere Chefanklägerin des IStGH Carla Del Ponte und forderte einen internationalen Haftbefehl gegen den russischen Präsidenten Wladimir Putin. "Putin ist ein Kriegsverbrecher", sagte Del Ponte der schweizerischen Tageszeitung "Le Temps".

Sie verwies auf russische Angriffe auf Zivilistinnen und Zivilisten und die Zerstörung von zivilen Gebäuden. "Das sind alles Kriegsverbrechen, denn es wurde ganz offensichtlich nicht auf militärische Objekte gezielt."

Del Ponte beaufsichtigte in ihrer Amtszeit die IStGH-Ermittlungen zu Kriegsverbrechen in Ruanda, Syrien und dem früheren Jugoslawien. Der IStGH hatte Anfang März Ermittlungen zur Lage in der Ukraine eingeleitet und auch eigene Teams in die Ukraine entsendet. (APA, red, 3.4.2022)