Die innenpolitischen Bedrohungen der liberalen Demokratie erfordern immer noch dringende Aufmerksamkeit, sagt Georgetown-Professor Charles A. Kupchan im Gastkommentar.

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US-Präsident Joe Biden, der deutsche Kanzler Olaf Scholz und der britische Premier Boris Johnson beim G7-Gipfel in Brüssel im März.
Foto: Reuters / Michael Kappeler

Der Politikwissenschafter Francis Fukuyama sieht eine "Neugeburt der Freiheit" voraus, die uns "aus unserer Angst vor dem Rückgang der globalen Demokratie befreit". Hoffnungsvoll fügt er hinzu, dass "der Geist von 1989 dank einiger mutiger Ukrainer weiterleben wird".

Nicht so voreilig! Die politischen Probleme der atlantischen Demokratien mögen zwar gerade aus den Schlagzeilen verdrängt sein, sind aber nicht verschwunden. Obwohl die russische Invasion für den Westen sicherlich ein Weckruf ist, reicht die Gefahr eines neuen Kalten Kriegs noch nicht aus, um die Vereinigten Staaten und Europa von Illiberalismus und politischen Störungen zu befreien.

Politische Disziplin

Tatsächlich wird der Krieg in der Ukraine wahrscheinlich wirtschaftliche Folgeeffekte haben, die einen politischen Rückschlag fördern. Daher müssen sich Amerika und Europa weiterhin darauf konzentrieren, ihre eigenen Häuser in Ordnung zu bringen und gleichzeitig zu gewährleisten, dass die Tragödie in der Ukraine die Aufmerksamkeit und die Ressourcen bekommt, die sie verdient.

In den USA des Kalten Krieges trug die politische Disziplin, die wegen der sowjetischen Bedrohung nötig war, dazu bei, außenpolitische Konflikte zwischen den Parteien verstummen zu lassen. Auch heute führt die Aussicht auf eine neue Ära militarisierter Rivalität zu Russland zur Wiederbelebung eines parteiübergreifenden Zentrismus bei staatlichen Themen.

Neuer Zentrismus?

Der linke Flügel der Demokratischen Partei fordert keine Kürzungen des Verteidigungsbudgets und keine schnelle oder umfassende Abkehr von fossilen Energieträgern mehr. Und bei den Republikanern haben sowohl die Falken als auch die Neoisolationisten ihre Kritik an Präsident Joe Biden gedämpft. Insgesamt unterstützen beide Flügel auch Bidens Maßnahmen gegen die russische Invasion.

Aber diese Rückkehr zur parteiübergreifenden Einheit wird wahrscheinlich nicht lang andauern. Die Einigkeit des Kalten Krieges beruhte nicht nur auf der sowjetischen Bedrohung, sondern auch auf einem ideologischen Zentrismus, der durch den weit verbreiteten Wohlstand innerhalb der USA gefördert wurde. Heute aber wurde die politische Mitte durch ständige wirtschaftliche Unsicherheit und klaffende Ungleichheit entvölkert, und an die Stelle ideologischer Mäßigung ist eine bittere Polarisierung getreten.

Erodierte Mitte

Diese Erosion der politischen Mitte erklärt das schnelle Verschwinden der Einigkeit nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001. Und sie erklärt, warum die öffentlichen Intellektuellen in den USA, kurz bevor der Krieg in der Ukraine die Aufmerksamkeit des Landes auf sich zog, über die Möglichkeit eines Bürgerkriegs diskutiert haben. Laut einer Umfrage fürchteten Ende letzten Jahres 64 Prozent der US-Amerikaner, die US-Demokratie sei "in einer Krise und vom Scheitern bedroht".

Die Gefahr einer Rückkehr zu einer illiberalen Missstandspolitik wird momentan durch die höchste US-Inflationsrate seit 40 Jahren verstärkt. Die steigenden Energie- und Lebensmittelkosten sind einer der Hauptgründe dafür, warum Bidens Zustimmungswerte trotz seiner starken Reaktion auf den Krieg in der Ukraine niedrig geblieben sind.

Agenda fortsetzen

Vor den Zwischenwahlen im November wird die karge republikanische Unterstützung für Biden erneut einer parteipolitischen Rivalität Platz machen. Und obwohl der neoisolationistische Flügel der Republikanischen Partei im Kongress momentan relativ ruhig ist, genießt er bei der Parteibasis starke Unterstützung und wird sich, wenn die US-Verbraucher unter den westlichen Sanktionen gegen Russland leiden, wieder zu Wort melden.

Angesichts der Möglichkeit, dass der illiberale Populismus in den USA ein Comeback feiert, muss die Biden-Regierung dringend ihre innenpolitische Agenda fortsetzen. Investitionen in Infrastruktur, Ausbildung, Technologie, Gesundheit und andere innenpolitische Programme bieten die beste Möglichkeit, die Unzufriedenheit der Wähler zu lindern und die notleidende politische Mitte des Landes wiederzubeleben. Der Haushalt, den Biden in dieser Woche vorgestellt hat, ist ein Schritt in die richtige Richtung.

"Europas großzügige Willkommenskultur könnte zu innenpolitischem Gegenwind führen."

Auch Europa sollte, während es sich auf die Reaktion gegen den Ukraine-Krieg konzentriert, seine Heimatfront genau im Auge behalten. Obwohl die politische Mitte dort immer noch stärker ist als in den USA, und die EU angesichts der russischen Aggression erstaunliche Einheit zeigt, bleiben die Gefahren für den europäischen Zusammenhalt dicht unter der Oberfläche.

Angesichts hoher Kosten durch ukrainische Flüchtlinge und der Aussicht auf ihre dauerhafte Einbürgerung könnte Europas großzügige Willkommenskultur zu innenpolitischem Gegenwind führen. Die Befreiung der EU von fossilen Energien aus Russland wird erhebliche Investitionen erfordern und noch höhere Energiepreise zur Folge haben, die Europas wirtschaftliche Erholung von der Covid-19-Pandemie behindern. Und obwohl Polen und Ungarn nun unterstützenswerte Frontstaaten sind, werden beide immer noch von illiberalen Regierungen geführt, die die zentralen europäischen Werte gefährden. Sie sollten nicht allzu ungeschoren davonkommen.

Innenpolitische Erneuerung

Ebenso wie die US-Amerikaner müssen auch die Europäer hart an ihrer innenpolitischen Erneuerung arbeiten. Wirtschaftliche Umstrukturierungen und Investitionen, eine Reform der Einwanderungspolitik und Grenzkontrollen sowie eine stärkere Vergemeinschaftung der außen- und verteidigungspolitischen Souveränität können dazu beitragen, die Solidarität und demokratische Legitimität der EU zu stärken.

Putins brutaler Angriff auf die Ukraine hat zu einer Verjüngung des Westens geführt. Aber die innenpolitische Bedrohungen der liberalen Demokratie, die vor dem Krieg im Mittelpunkt standen, erfordern immer noch dringende Aufmerksamkeit – trotz der massiven Bemühungen, Russland daran zu hindern, seinen Nachbarn zu unterdrücken. Würde der Westen Putins Spiel in der Ukraine in eine krachende Niederlage verwandeln, nur um dann zu erleben, dass seine liberalen Demokratien inneren Feinden zum Opfer fallen, wäre das eine tragische Ironie. (Charles A. Kupchan, Copyright: Project Syndicate, 5.4.2022)