Im Umgang mit Polen heute darf der Westen die Lehren aus dem Türkei-Deal in der Flüchtlingskrise 2015 nicht ignorieren, warnt der CEU-Professor Maciej Kisilowski im Gastkommentar.

Bei ihrem Kampf gegen den mörderischen Revanchismus des russischen Präsidenten Wladimir Putin scheinen die westlichen Politiker zunehmend offen für einen faustischen Handel mit anderen autoritären Regimen zu sein. Deshalb ist der britische Premierminister Boris Johnson am 16. März nach Saudi-Arabien gereist, um dort den De-facto-Regenten Kronprinz Mohammed bin Salman zu treffen – als einer von wenigen westlichen Politikern seit der grauenhaften Ermordung des saudischen Journalisten Jamal Khashoggi 2018.

Was das Ziel betrifft – Alternativen zum russischen Öl zu finden –, ähnelte Johnsons Trip einer vorherigen Reise: Juan Gonzalez, der leitende Beamte für Lateinamerika im Nationalen Sicherheitsrat der USA, besuchte Venezuela, um dort mit Nicolás Maduros Regime zu sprechen. Außerdem haben die USA der Türkei – einem Nato-Mitglied mit schlechtem demokratischem Ruf – ihren Segen gegeben, da dieses Land Gespräche zwischen der Ukraine und Russland vermittelt.

Nur Verachtung

Am erstaunlichsten aber war die Bereitschaft der EU und der Nato, der illiberalen polnischen Regierung eine starke Rolle zu geben. Polens De-facto-Staatschef Jarosław Kaczyński, der Vorsitzende der Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS), schaffte es kürzlich mit einer Reise nach Kiew als Teil einer Delegation von Regierungschefs aus Polen, Tschechien und Slowenien in die weltweiten Schlagzeilen.

Kaczyński als Fürsprecher der westlichen Demokratie zu betrachten ist wirklich surreal: Dies ist ein Mann, der in seinem gesamten politischen Leben seit 1989 die demokratische Ordnung Europas immer nur verachtet hat. In den letzten sieben Jahren hat sein Regime dafür gesorgt, dass Polen von einem demokratischen Vorreiter in Zentral- und Osteuropa zu einem der sich am schnellsten "autokratisierenden" Länder der Welt wurde.

Im Zug nach Kiew: Janez Janša (Slowenien, li.), Mateusz Morawiecki, Kaczyński (Polen) und Petr Fiala (Tschechien, re.).
Foto: EPA / Twitter / Morawiecki

Neues Vertrauen

Das neue westliche Vertrauen gegenüber Polen erinnert an das, das der Türkei während der Flüchtlingskrise von 2015 entgegengebracht wurde. Was Kaczyński heute ist, war damals der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan, der sich bereiterklärt hatte, gegen Finanzhilfen in Höhe von sechs Milliarden Euro syrische Flüchtlinge an der Weiterfahrt nach Europa zu hindern – ein autokratischer Problemlöser für den Westen. Der Grund dahinter ist derselbe: der unauflösliche Widerspruch zwischen den angeblichen westlichen Prinzipien und der Bereitschaft, sich entsprechend zu verhalten.

2015 ging die Geduld der Europäer mit den vielen Asylwerbern zu Ende, aber die klaren Worte der Flüchtlingskonvention von 1951 verpflichteten sie dazu, alle Menschen aufzunehmen, deren "Leben oder Freiheit ernsthaft bedroht" ist. Das Abkommen mit der Türkei schien dieses Dilemma zu lösen. Statt die Konvention offen zu missachten, konnten die Europäer der Türkei die schmutzige Aufgabe überlassen, die Flüchtlinge an der Weiterfahrt zu hindern.

Gefährlicher Dienst

Eine ähnliche "ungewöhnliche Lesart" moralischer Verpflichtungen findet sich nun in Polen. In seiner unerschütterlichen Unterstützung der territorialen Integrität der Ukraine sieht der Westen den russischen Angriff als Bedrohung der europäischen Ordnung, ist aber nicht bereit, diese an vorderster Front zu verteidigen.

Weil sich Ungarn, ein weiteres quasiautoritäres Nato-Mitglied, geweigert hat, sein Staatsgebiet für die ukrainische Militärhilfe zur Durchfahrt freizugeben, ist die einzige realistische Route nun ein schmaler Abschnitt der polnischen Grenze. Diesen Dienst zu leisten ist für Polen ziemlich gefährlich, da Russland militärische Nachschubkonvois zu legitimen Angriffszielen erklärt hat. Und wie von der Türkei 2016 wird auch von Polen erwartet, einen großen Teil der Millionen ukrainischen Flüchtlinge aufzunehmen.

Kosmetische Änderungen

Der Westen ist auf die Gefälligkeiten Polens angewiesen, und der Preis dafür ist eine Wiederannäherung. Wie US-Vizepräsidentin Kamala Harris gegenüber Kaczyńskis Marionettenpräsident Andrzej Duda witzelte: "Ein Freund in der Not ist ein wahrer Freund." Georgette Mosbacher, Donald Trumps ehemalige Botschafterin in Polen, ging noch weiter, indem sie behauptete, Polen verdiene "eine Entschuldigung" der EU und der USA für deren frühere Kritik am demokratischen Rückschritt des Landes. Auch wird darüber diskutiert, ob Polen wieder Zugang zu EU-Mitteln erhalten könnte, die wegen eklatanter Verletzungen des Rechtsstaatsprinzips konsequent eingefroren wurden. Im Gegenzug dafür gäbe es wahrscheinlich ein paar kosmetische Änderungen des polnischen Rechts.

Diese Maßnahmen werden die polnische Regierung nicht dazu bringen, sich stärker für die europäischen Werte zu verpflichten. Im Gegenteil, sie werden Polen ermutigen und mehr Einfluss verschaffen. Man sollte sich daran erinnern, dass Erdoğan nach dem gescheiterten Putschversuch von Juli 2016 – nur wenige Monate nach seinem Abkommen mit der EU – weiter die Justiz, die Verwaltung, die Medien und die Universitäten von politischen Gegnern säuberte. Fast 40.000 Menschen wurden eingesperrt, und die EU sah ziemlich hilflos dabei zu.

"Faustische Pakte neigen dazu, unbeabsichtigte Folgen zu haben, und Autokraten sind nicht gerade die verlässlichsten Problemlöser."

Auch in Polen ist bereits eine ähnliche Dynamik erkennbar. Am 10. März erklärte der Verfassungsgerichtshof, eine mit Kaczyńskis Loyalisten besetzte Scheininstitution, wichtige Regeln der Europäischen Konvention für Menschenrechte für verfassungswidrig. So wurde Polen – neben Russland – zum einzigen europäischen Land, das gegen das wegweisende europäische Menschenrechtsabkommen von 1950 verstieß. Als Nächstes wird die Regierung wahrscheinlich vorzeitige Wahlen ausrufen, um ihre Macht bis 2026 zu zementieren.

Die polnischen, türkischen und venezolanischen Normalbürger werden nicht die Einzigen sein, die den Preis für die Entscheidung des Westens zahlen müssen, unliebsame Autoritäre in ihre Koalition der Willigen aufzunehmen. Faustische Pakte neigen dazu, unbeabsichtigte Folgen zu haben, und Autokraten sind nicht gerade die verlässlichsten Problemlöser. Während Kaczyński und seine Entourage auf dem Weg in die Ukraine waren, schäumten EU-Vertreter in Brüssel, der Besuch könne zum "Funken für den Dritten Weltkrieg" werden. Auch Kaczyńskis spätere Ideen, Nato-Truppen in die Ukraine schicken zu wollen, beschwichtigten diese Ängste nicht unbedingt. Westliche Politiker müssen sich nicht an Autokraten anbiedern, um im Krisenfall gemeinsam handeln zu können. Angesichts dessen, dass es in Polen bereits vorher eine natürliche und weit verbreitete Unterstützung für die Ukraine gab, hätte Kaczyński sich niemals getraut, die Hilfslieferungen der EU oder der Nato zu blockieren. Weitere Lobeshymnen oder Großzügigkeiten in seine Richtung laufen also auf ein unverdientes politisches Geschenk hinaus.

Moralische Kompromisse

Darüber hinaus gibt es fast immer andere Möglichkeiten: 2016 haben Prominente wie George Soros einige ernsthafte Vorschläge für ein nachhaltiges EU-Flüchtlingssystem gemacht – das es nicht mehr notwendig gemacht hätte, mit Erdoğan zu verhandeln. Außerdem müssen die Europäer einen lang andauernden Krieg in der Ukraine nicht als unvermeidlich akzeptieren. Stattdessen könnten sie gemeinsam mit den USA alles tun, um die Regierung des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj bei ihren wiederholten Versuchen zu unterstützen, mit Putin eine Verhandlungslösung zu finden.

Wenn wir schon moralische Kompromisse mit Schurken eingehen müssen, sollten wir uns nicht auf Randschauplätze konzentrieren, die zukünftig nur Probleme bringen, sondern auf Verhandlungen, die die Krise tatsächlich beenden. (Maciej Kisilowski, Übersetzung: Harald Eckhoff, Copyright: Project Syndicate, 25.3.2022)