Soziologe Max Haller schreibt in seinem Gastkommentar über die Möglichkeiten einer aktiven Friedenspolitik.

Der Krieg von Wladimir Putins Russland gegen die Ukraine wird weltweit zu Recht als ein unerhörter Bruch von Völkerrecht und Frieden verurteilt. Die Reaktionen sind verständlich: Es gibt scharfe wirtschaftliche Sanktionen, Waffenlieferungen an die Ukraine und in Europa einen Schwenk zur Aufrüstung. Viele fordern die Aufstellung einer EU-Armee. Es ist evident, dass alle diese Bemühungen darauf hinauslaufen würden, eine neue, bipolare Welt von stark bewaffneten Großmachtblöcken zu schaffen. Gibt es keine andere Perspektive als eine Neuauflage des gefährlichen Kalten Kriegs? Diese scheint mir sehr wohl zu bestehen, und zwar in einer aktiven Friedenspolitik. Eine solche ist mehr als nur ein Verzicht auf Rüstung und Gewaltanwendung. Pazifismus darf nicht als rein passive, unterwerfungsbereite Haltung diskreditiert werden.

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Seit Ende Februar tobt der Krieg in der Ukraine – und es ist kein Friede in Sicht. Viele europäische Staaten haben ihre Verteidigungspolitik umgestellt und setzen auf militärisches Hochrüsten.
Foto: AP / Frank Gunn

Zum Ersten ist festzustellen: Es gibt mehrere Formen von Nichtkrieg: Ein Kalter Krieg ist durch grundsätzlich misstrauische Beziehungen zwischen Staaten charakterisiert; sie operieren weltweit überall dort, wo es den eigenen Interessen (angeblich) nützt, jenen des Gegners schadet und relativ gefahrlos möglich ist. Die Bildung von Militärallianzen – wie der Nato – ist ein Ausdruck dafür. Ein Interessensfrieden ist gegeben, wenn auch die Großmächte auf solche Interventionen verzichten und das Völkerrecht anerkennen.

In aller Freundschaft

Freundschaftliche Beziehungen sind grundsätzlich positiv und vertrauensvoll; sie entstehen zwischen demokratischen Staaten und insbesondere solchen, die auch kulturell oder sogar als integrative Institutionen (wie die EU) verbunden sind. Diese letztere Form von Beziehungen auf Weltebene liegt in weiter Ferne. Die Herstellung interessensbezogener friedlicher Beziehungen ist jedoch keine Illusion.

Ein Rückblick auf die Entwicklung seit dem Zerfall der Sowjetunion bis hin zum Krieg in der Ukraine zeigt, dass eine einmalige Chance für einen solchen Frieden in Europa vertan wurde. 2001 hielt Putin eine stark beklatsche Rede vor dem Deutschen Bundestag in Berlin, in welcher er von der Notwendigkeit und Bereitschaft zu einer europäischen Friedenspolitik sprach. Ab Mitte der 1990er-Jahre wurden etwa durch die Einrichtung des Nato-Russland-Rats konkrete Schritte in diese Richtung unternommen. Diese vielversprechenden Ansätze wurden 2004 durch die Nato-Osterweiterungen um sieben Länder konterkariert, aus denen die Sowjettruppen ab 1991 freiwillig abgezogen waren. Diese Osterweiterung wurde selbst in den USA als "verhängnisvoller Fehler" kritisiert. Der Haupteinwand dagegen – dass dadurch in Russland antidemokratische Kräfte gestärkt würden – ist durch die Entwicklung seither in dramatischer Weise bestätigt worden. Nachdem in der Orangenen Revolution 2004/05 sogar die Ukraine sich der EU und Nato zuzuwenden begann, wandelte sich Putins außenpolitisches Denken. Fünf Jahre später annektierte er die Krim und unterstützte die Errichtung der "Volksrepubliken" Donezk und Luhansk.

"Die Verabschiedung von der Neutralität würde auch die vielfältigen Möglichkeiten Österreichs für eine aktive Vermittlungs- und Friedenspolitik zwischen den Blöcken beeinträchtigen."

Zum Zweiten: Würde die Abschaffung der Neutralität und ein Nato-Beitritt die Sicherheit Österreichs erhöhen? Auch dies ist infrage zu stellen. Neutralität ist natürlich kein absoluter Schutz gegen ausländische Aggressionen. Aber zu behaupten, sie sei wertlos, ist schlicht falsch. Dem Überfall Adolf Hitlers auf das neutrale Belgien steht die Tatsache gegenüber, dass er die neutralen, wehrhaften Staaten Schweden und Schweiz nicht behelligte. Dass Österreich durch eine Nato-Mitgliedschaft nicht besser geschützt würde, glauben auch die Österreicherinnen und Österreicher, die ein Aufgeben der Neutralität mehrheitlich ablehnen.

Umfragen zeigen, dass die Sicherung des Friedens einen der wichtigsten Grundwerte für die Menschen darstellt. Die Verabschiedung von der Neutralität würde auch die vielfältigen Möglichkeiten Österreichs für eine aktive Vermittlungs- und Friedenspolitik zwischen den Blöcken beeinträchtigen. Sie war ein Hauptgrund dafür, dass Wien Standort der Uno sowie der OSZE wurde und hier wichtige Abrüstungsabkommen verhandelt wurden. Durch die Teilnahme an militärischen UN-Missionen zur Friedenssicherung hat Österreich gezeigt, dass es kein sicherheitspolitischer Trittbrettfahrer ist.

Schließlich wird der zentrale Akteur im Bereich der internationalen Friedenssicherung, die Vereinten Nationen, kaum je erwähnt. Tatsächlich wäre eine Stärkung der Uno eine Alternative zur jüngsten Aufrüstung des Westens. Die Uno hat zwar bei manchen Einsätzen versagt, aber in vielen Fällen hat sie doch entscheidend zur Verhinderung des Ausbruchs von Kriegen und zur Lösung von Konflikten beigetragen.

Überfällige Reform

Die Abstimmungen zu den Resolutionen über den Einfall Russlands in die Ukraine haben ihr positives Potenzial bestätigt: Im Sicherheitsrat und in der Generalversammlung befürwortete die große Mehrheit eine Verurteilung Russlands. Nicht einmal China war bereit, Putin zu unterstützen. Das heißt, ein von der Uno gestützter internationaler Interessensfrieden erscheint möglich. In dessen Rahmen wären die Einflusszonen der Großmächte zu respektieren, diese müssten sich ihrerseits verpflichten, in den Beziehungen zu ihren kleineren Nachbaren wie auch weltweit jeder Gewaltanwendung zu entsagen. Die Uno ist die einzige Institution auf Weltebene, die legitimiert ist, bei massiver Verletzung von Menschenrechten innerhalb von Staaten zu intervenieren.

Auch zur überfälligen Reform der Uno könnte das neutrale Österreich einen wichtigen Beitrag leisten. Dabei würde es zweifellos von der großen Mehrheit der Mitgliedsländer unterstützt, die zu drei Viertel Klein- und Mittelstaaten sind. (Max Haller, 24.3.2022)