Der Bild fällt die Abwägung zwischen richtig und falsch wieder einmal leicht. "Luxus-Lagarde" oder "Madame Inflation", wie das Boulevardblatt die Chefin der Europäischen Zentralbank (EZB) gern nennt, ignoriere die Sorgen der "normalen Leute". Sie weigere sich nämlich, den Kampf gegen die Inflation aufzunehmen, während Menschen wegen der Teuerung zusehends verarmen.

Muss zur Zeit viel Kritik einstecken: EZB-Chefin Christine Lagarde.
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Solche Angriffe der auflagenstärksten deutschen Zeitung gegen EZB-Chefin Christine Lagarde werden derzeit häufiger und fallen auf zusehends fruchtbaren Boden. Keine Woche vergeht, ohne dass die Inflation neue Rekordhöhen erklimmt. Im März lag die Teuerungsrate im Euroraum bei 7,5 Prozent. Wie kann die EZB da noch mit Zinserhöhungen zuwarten?

Dabei ist für alle, die nicht einem eindimensionalen Weltbild anhängen, offensichtlich, dass die EZB in einem Dilemma steckt, aus dem es keinen angenehmen Weg heraus gibt. Sicher ist, dass das Argument, mit dem die Zentralbanker bisher eine straffere Geldpolitik abgelehnt haben, nicht länger haltbar ist. Die EZB argumentiert ja seit einem Jahr, dass sie durch die hohe Teuerung "hindurchsehen" wird, solange die Entwicklung nur kurz anhält. Das ist auch sinnvoll. Um nicht in erratische Politik zu verfallen, kann eine Notenbank nicht bei jedem Preissprung sofort reagieren und Zinsen anheben. Denn das verteuert bestehende und neue Kredite für Unternehmen und Haushalte. Es wird weniger investiert, weniger konsumiert, das belastet die Wirtschaft und kostet Jobs.

Seit Kriegsbeginn in der Ukraine ist klar, dass die Teuerung keine kurze Episode bleiben wird. Die EZB peilt eine Inflation von zwei Prozent an, das ist in weite Ferne gerückt. Die Inflation erfasst immer mehr Lebensbereiche und bereitet immer mehr Menschen Probleme und Sorgen. So gesehen müssten Lagarde und ihre Kollegen handeln.

Zinsanhebung birgt auch Risiken

Doch der Ruf nach höheren Zinsen übersieht die Gefahren. Die große Treibkraft hinter der Inflation bleiben die Energiepreise. Auf diese hat die Zentralbank mangels Öl- und Gasspeichern keinen Einfluss. Selbst wenn sie Zinsen anhebt, wird das die Inflation wenig beeinflussen. Eine Analyse des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung kommt zum Ergebnis, dass eine Zinserhöhung um 0,25 Prozent die Gesamtinflation in Deutschland um 0,2 Prozent senken würde. Das Ergebnis der Rechnung wäre in Österreich wohl ähnlich. Demnach müsste der Leitzins auf ein Niveau von fünf bis sechs Prozent steigen, um die Teuerung auf das EZB-Ziel zu bringen.

Selbst wenn etwas weniger reichte, ist klar, dass der Rückgang der Inflation teuer erkauft wäre, unter Umständen mit einer Rezession, was menschliches Leid und neue Verwerfungen nach sich zöge. Es gibt also Argumente dafür, dass sich die EZB in der aktuellen Inflationswelle zurückhält. Es bliebe Aufgabe des Staates, die sozialen Folgen der Inflation zu mildern.

Die EZB steht bei ihrer Ratssitzung heute, Donnerstag, und in den kommenden Wochen vor schwierigen Abwägungsfragen. Egal, wie sie sich entscheidet: Beide Wege sind schmerzlich.(András Szigetvari, 14.4.2022)